Text:   Zeichner: Maria Scrivan

nICHt genug

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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonMai 2022

Story

Bewegend, einfühlsam und immer wieder mit einer aufmunternden Portion Humor. Maria Scrivan beweist ein gutes Gespür, was die Themen Selbstzweifel und Umgang mit toxischen Freundschaften betrifft.

Zeichnung

Die junge Zielgruppe wird begeistert sein. Charmante Hauptfiguren und kräftige Farben.

Lost and Found

Guten Morgen, liebe Sorgen…

Die Schule kann ein hartes Pflaster sein. In ungeschriebenen Regeln steht geschrieben, wer zu den Außenseitern gehört, wer zu den „coolen“ Kids zählt und wer das Glück hat, irgendwo zwischen beiden Gruppen in der Mittelmäßigkeit zu verschwinden. Festgelegt von denen, die sich selber für etwas Besseres halten und dies großspurig mit der Welt teilen. Gehört man zur erstgenannten Gruppe, bekommt man schnell einen unsichtbaren Stempel aufgedrückt, der sich schnell zu einer sehr wohl sichtbaren Zielscheibe manifestiert, die man offen zur Schau trägt und nur auf den nächsten Volltreffer wartet. Das kann zu einem täglichen Spießrutenlauf werden, bei dem unbedachte Querschläger beim Startschuss des Pausengongs auch schnell mal ihr Ziel verfehlen können und dorthin treffen, wo es am meisten schmerzt: mitten ins Herz. Mobbing und Ausgrenzung sind keine Kavaliersdelikte. Worte können derart viel anrichten, dass sie nicht nur nagende Selbstzweifel auslösen, sondern sogar krank machen. Zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein. Zu dumm, zu talentfrei, zu unsportlich. Nicht die richtigen Klamotten, falsche Frisur, zu armes Elternhaus. Angriffsflächen finden sich wie Sand am Meer, wenn man diese denn unbedingt sucht. Getarnt unter einem meterdicken Mantel aus Oberflächlichkeit und Arroganz, wird die eigene Unsicherheit kaschiert. Schart man dann noch eine Horde leicht beeinflussbarer Anhängerinnen oder Anhänger um sich, die lieber unterwürfig im Schatten stehen als sich selbst ins Kreuzfeuer zu stellen, findet sich der geborene Anführer, welcher in dreißig Jahren beim Klassentreffen nach ein paar Kurzen von seinen drei Scheidungen und seinem Alkoholproblem plaudert. Erfolg wird nicht in die Wiege gelegt und Respekt ist keine Einbahnstraße. Plumpe Kalendersprüche? Vielleicht… aber die Großmäuler von gestern sind die Heulsusen von morgen.

Natalie ist ein Mädchen, das ihr Licht selbst unter den Scheffel stellt. Bisher brauchte es keine Außenstehenden, die ihr sagten, dass sie nicht cool genug, nicht stylish genug oder talentfrei in allem war, worin sie sich versuchte. Nein, das erledigt sie schon selber. Aber immerhin hat sie Lily. Ihre beste Freundin. Der Fels in der Brandung, mit dem sie durch dick und dünn gehen kann… besser gesagt konnte. Im letzten Sommer ist Lily mit ihren Eltern umgezogen, ans andere Ende der Stadt. Seitdem hat sie nur noch wenig Zeit für Natalie. Eigentlich hat sie überhaupt keine Zeit mehr für sie und wimmelt sie ab, wo es nur geht. Natalie kann sich den Wandel nicht erklären, zumal nichts zwischen den Freundinnen vorgefallen ist. Insgeheim hofft sie - eigentlich ist sie sogar felsenfest davon überzeugt -, dass mit Start des neuen Schuljahres an einer neuen, größeren Schule alles wieder beim Alten ist. Doch schon der erste Tag verpasst dem Mädchen einen ordentlichen Dämpfer. Lily hängt mit dem scheinbar coolsten Mädchen der Schule ab. Eines dieser Sorte, wie man sie auf stylishen Magazin-Covern findet. Für Lily ist Natalie nur noch Luft. Und als wenn das nicht schon genug wäre, folgt eine verbale Demütigung auf die andere. Obwohl jeder Annäherungsversuch seitens Natalie mit einem Tiefschlag abgeblockt wird, legt sie sich ins Zeug, um Lily zurückzugewinnen. Selbst als sie die sympathischen Mitschülerinnen Zoe und Flo kennenlernt, ist Natalie noch auf ihre abweisende Ex-Freundin fixiert. Es dauert eine Zeit, bis sie sich die beherzten und liebenswerten Worte der beiden Mädchen zu Herzen nimmt und erkennt, was Freundschaft wirklich ausmacht. Und tatsächlich findet Natalie noch eine Fähigkeit, mit der sie wirklich glänzen kann und ungeahnt über sich hinauswächst…

Die Kunst, sich selbst zu akzeptieren

Dass Freundschaften aus Kindheitstagen vergänglich sind und irgendwann auseinanderdriften, hat bestimmt jeder von uns schon erlebt. Ob nun durch Streitereien, Umzüge oder schlicht und einfach, weil die Interessen auseinandergehen. Oft ein schleichender Prozess, manchmal abrupt. Wo am letzten Tag vor den großen Ferien noch Friede, Freude, Eierkuchen herrschte, können nach sechswöchiger Funkstille zum Beginn des neuen Schuljahres gänzlich andere Charaktere wieder aufeinanderprallen. Einer geht nach links, der andere nach rechts, und ein anderer wiederum bleibt auf der Stelle stehen. Auf einem gemeinsamen Weg befinden sie sich aber alle nicht mehr. Das ist auch okay so, so lange niemand darunter ernsthaft zu leiden hat. Und wenn eine Freundschaft nur noch einseitig ist oder gar toxisch wird - wie im Fall von Natalie und Lily -, ist nicht nur Vorsicht geboten, sondern höchste Eisenbahn, dass so ein ungesundes Verhältnis nicht nachhaltig die Seele verletzt und die betroffene Person mit ihrem Kummer nicht alleine gelassen wird. Natalie ist ein smartes, sympathisches Mädchen, welches gar nicht merkt, in welches Abhängigkeitsverhältnis sie sich verrannt hat. Es ist herzergreifend und tut fast schon weh, wie sie an Selbstzweifeln zu zerbrechen droht, während sie sich nicht zu schade ist, immer tiefer gebückt zur oberflächlichen Lily zu kriechen, um sich von oben herab die nächste Abfuhr abzuholen. Autorin und Zeichnerin Maria Scrivan geht sehr behutsam mit diesem sensiblen Thema um, beschönigt aber nicht die Schattenseiten. Wenn die Erkenntnis kommt, dass Natalie nicht die Erwartungen von Menschen erfüllen muss, die das Wort „Respekt“ nur aus einem altertümlichen Song aus dem Autoradio ihrer Eltern kennen, von denen sie tagtäglich bis zum Pult im Klassenraum hofiert werden, ist es für die Leserinnen und Leser so, als würde erlösend ein Knoten platzen.

Im Original heißt Maria Scrivans lebensbejahender Reihen-Auftakt „Nat Enough“, womit natürlich auf die Hauptfigur Bezug genommen wird. Sehr schön, dass sich für den deutschen Titel „nICHt genug“ ein ähnlich passendes Wortspiel gefunden hat. Der Zeichenstil der preisgekrönten Illustratorin, deren „Half Full“-Cartoons täglich in mehreren amerikanischen Tageszeitungen erscheinen, ist schlicht… aber nicht schlecht. Auf eine junge Zielgruppe ausgelegt, fand ich die Zeichnungen äußerst charmant und passend. Erstaunlich, wie einem bei einem strahlenden Lächeln einer eher schlicht gezeichneten Figur das Herz aufgehen kann. Die kunterbunte Kolorierung trägt einen selbst durch ergreifende Passagen und sorgt dafür, dass man nicht vor Anteilnahme gebeutelt einem hoffentlich schnell eintretenden Happy End entgegenfiebert. Das kommt, also genießt das Buch.

Apropos Buch: „nICHt genug“ ist im Verlag LOEWE GRAPHIX als hochwertiges Hardcover in kreischendem Pink erschienen. Die Papierqualität ist hervorragend, was auch für den kräftigen Druck mit seinen strahlenden Farben gilt. Ringsherum finden sich auf dem Einband Spotlack-Applikationen, was der Graphic Novel ab 8 Jahren (empfohlen) noch eine besondere Note verleiht.

Fazit:

Kann man „nicht genug“ sein? Das kann man…, wenn man sich selbst so sieht. Sollte man das? Keinesfalls! Schaut in den Spiegel, lächelt Euch selbst zu. Behandelt Euch mindestens mit dem gleichen Respekt, den Ihr auch anderen entgegenbringt. Sucht Eure Stärken. Findet sie und fördert sie an die Oberfläche. Jeder hat Stärken, schlummernde Talente. Probiert Euch aus und bleibt neugierig, lebenslustig, fair und offen für Neues… dann seid Ihr MEHR als nur genug.

nICHt genug

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