We can be Heroes…
…just for one day
Ziggy Stardust ist nicht mehr. Die Kunstfigur, verkörpert durch ihren Schöpfer David Robert Jones – alias David Bowie – wurde vom Musiker persönlich verbannt. Er musste sich von ihr lösen, nachdem musikalische Höhenflüge ihn nicht nur schaffenstechnisch in eine Sackgasse führten. Auch Bowies Drogenkonsum nahm bedrohliche Ausmaße an, sodass er auf dem vermeintlichen Zenit seiner Karriere die Reißleine zog und die Space-Ära für beendet erklärte.
Ein Tapetenwechsel musste her. So radikal wie möglich, denn der köchelnde Hexenkessel Los Angeles drohte ihn bei lebendigem Leib zu verzehren. Ein klarer Schnitt. Weg vom Management, welches die Gelddruckmaschine Bowie natürlich lieber bis zum letzten Tropfen ausgequetscht hätte. Weg von den wilden, ausschweifenden Partys, die einen zwar mitreißen, aber genau so schnell vernichten konnten. Einfach weg von allem! Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Die künstlerische Essenz. Die Musik… und das, was sie so besonders macht. Seine Musik. Einen Sound finden, den weder Bowie selbst noch seine Fans von ihm erwarten würden. Neue Wege gehen, sich von anderen Künstlern und ihren musikalischen Welten inspirieren lassen. Durchatmen, die Seele mit Geschichte und Kunst befeuern. So lange, bis die kreative Flamme wieder lichterloh brennt.
Das Ziel Bowies neuer Selbst(er)findung war Deutschland. Genauer gesagt Berlin. West-Berlin, um noch genauer zu sein, denn 1976 war die heutige Hauptstadt noch zweigeteilt. Bands wie Cluster oder Can, die mit ihren psychedelisch-avantgardistischen Stilen den Krautrock prägten, oder die experimentellen Elektronik-Pioniere von Kraftwerk, begeisterten Bowie ungemein. So sehr, dass er sich in Berlin endlich mal wieder frei fühlen und vom neuartigen Sound komplett treiben lassen konnte. Und wieder mental und kreativ auf dem richtigen Weg, sollte ihn die Stadt zu musikalischen Höchstleistungen motivieren.
Neuer Sound, neues Leben
Zwischen 1976 und 1979 entstanden die drei wegweisenden Alben „Low“, „Heroes“ und „Lodger“. Zusammen bilden sie die sogenannte Berlin-Trilogie, die der Engländer zusammen mit seinem Landsmann Brian Eno und dem amerikanischen Produzenten Tony Visconti aufnahm. Zwar wurden „Low“ hauptsächlich im französischen Château d’Hérouville und „Lodger“ in der Schweiz aufgenommen, doch die frische Berliner Luft zieht sich durch beide Werke. „Low“ war mit neuartigen Elektro-Sounds ein harter Schnitt zum direkten Vorgänger „Station to Station“, dem zehnten Studioalbum, welches eher dem Soul der Seventies huldigte. Eher düster, überraschend Instrumental-lastig und geprägt von der seelischen Zerrissenheit des Künstlers. Aber ebenso geprägt von den neuen musikalischen Einflüssen, die David Bowie in Berlin regelrecht aufsaugte. Das Nachfolge-Album „Heroes“, aufgenommen in den Hansa-Tonstudios in West-Berlin, begeisterte nicht nur Kritiker mit seinen nun durchaus positiven Vibes. Der gleichnamige Titelsong hat auch heute nichts von seiner unglaublichen Power verloren. Unter anderem vertreten im großartigen Coming-of-Age-Streifen „Vielleicht lieber morgen“ – gedreht vom Autor der Romanvorlage Stephen Chbosky –, wo er wie kein zweiter Song perfekt hineinpasst. Das aber nur als kleine Randnotiz.
Doch während des Deutschland-Aufenthalts entstand nicht nur die Berlin-Trilogie. David Bowie kam nämlich nicht allein, sondern hatte seinen alten Freund Iggy Pop mit im Gepäck. Nachdem der heute noch aktive Godfather of Punk sich nach der Auflösung seiner Band The Stooges auf einem selbstzerstörerischen Trip befand, der den eh schon schmalen Musiker durch exzessiven Drogen- und Alkoholkonsum zusätzlich zeichnete, nahm er Bowies Einladung nach Deutschland dankend – wenn auch nicht so euphorisch wie sein langjähriger Weggefährte – an. Bowie konnte für ihn einen neuen Plattenvertrag eintüten und produzierte 1977 sogar die beiden Alben „The Idiot“ und „Lust for Life“ für Iggy Pop. Der gleichnamige Song des zweiten Albums und der dort ebenfalls enthaltene „The Passenger“ zählen zu den bekanntesten und erfolgreichsten Titeln des US-Amerikaners, der während seiner Musik-Karriere auch hin und wieder mal Hollywood-Luft als Schauspieler schnupperte. Unter anderem im Johnny-Depp-Film „Cry-Baby“, den Comic-Verfilmungen „Tank Girl“ und „The Crow - Die Rache der Krähe“ oder der französischen Komödie „Große Jungs“. Damit ist er in guter Gesellschaft, denn Bowie zog es mit „Der Mann, der vom Himmel fiel“, „Merry Christmas Mr. Lawrence“, „Absolute Beginners - Junge Helden“, Jim Hensons „Reise ins Labyrinth“ oder David Lynchs schwer unterschätztem Meisterwerk „Twin Peaks: Fire Walk With Me“ ebenfalls mehrfach vor die Kamera.
So einzigartig…
…wie David Bowie (1947 – 2016) sich zu Lebzeiten immer wieder neu entdeckte und wandelbar weiterentwickelte, ist es dem deutschen Biografie-Genie Reinhard Kleist gelungen, den über-lebensgroßen Weltstar sowohl als Künstler als auch als Mensch in imposanten Bildern zu verewigen. Musiker wie Johnny Cash und Nick Cave wurden bereits beeindruckend von ihm für die Nachwelt in Comic-Form konserviert, doch mit den wohl prägendsten Etappen aus David Bowies Leben spielt der in der Nähe von Köln geborene Kleist in einer ganz eigenen Liga. Gestik und Mimik bringt er in gekonnten Tusche-Zeichnungen einfach perfekt auf den Punkt. So sicher und fast selbstverständlich, dass man als Comic-Liebhaber aber auch gar nichts bemängeln könnte. Jeder schwungvolle Strich sitzt wie eine Eins! Zeitgleich lässt der Künstler – in poppiger Kolorierung von Kleist und Thomas Gilke – noch die 70er aufleben und schickt eine Liebeserklärung an die Hauptstadt raus, die neben Bowie ganz klar als weiterer Hauptprotagonist dieser Graphic Novel gesehen werden kann.
Wie bereits beim ersten Bowie-Band, „Starman - David Bowie's Ziggy Stardust Years“, ist „Low - David Bowie’s Berlin Years“ vom CARLSEN Verlag auch als streng limitierte Luxusausgabe veröffentlicht worden. Anders als die herkömmliche Hardcover-Veröffentlichung verfügt diese über einen Schutzumschlag und kommt zudem mit einem nummerierten und von Reinhard Kleist signierten Druck. Dieses Liebhaber-Schätzchen ist auf 1976 Exemplare limitiert.
Fazit:
Nicht nur für Musik-Fans ein absoluter Pflicht-Titel. Reinhard Kleist verarbeitet hier zwar nur eine wichtige Schaffens-Etappe im Leben des Ausnahmekünstlers David Bowie, geizt aber nicht mit zeitgeschichtlichen Highlights und Lokalkolorit. Mit dieser zweibändigen Bowie-Biografie zementiert Kleist zweifelsohne seinen Platz im Olymp der deutschsprachigen Comic-Künstler.

Reinhard Kleist, Reinhard Kleist, Carlsen
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