Stan Lee
1922 - 2018

von Marcel Scharrenbroich (11.2018)

Excelsior!

Stanley Martin Lieber

Unter diesem Namen erblickte Stan „The Man“ am 28. Dezember 1922 als Sohn von Jack und Celia Lieber in New York das Licht der Welt, welche vor seiner Geburt von Rumänien in die Vereinigten Staaten übersiedelten. Bereits in jungen Jahren war Lieber fasziniert vom Schreiben und träumte davon, DEN großen Roman auf den Markt zu bringen… zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, dass sein Vermächtnis diesen einstigen Wunschgedanken um ein unbeschreiblich Vielfaches überragen würde. 1939 verschaffte sein Onkel Robbie Solomon dem damals siebzehnjährigen Stanley seinen ersten Job beim neu gegründeten Verlag Timely Publications, welcher später in Timely Comics umbenannt wurde. Für den Verleger Moe „Martin“ Goodman erledigte er Botengänge, füllte laut eigener Aussage die Tusche der Zeichner auf und radierte die Bleistift-Skizzen von den fertig getuschten Reinzeichnungen. Für das im Mai 1941 publizierte Comic-Heft „Captain America #3“ trat Stanley Lieber erstmalig als Autor in Erscheinung. Für seine zweiseitige Text-Geschichte, in der er auch den legendären Schild-Wurf des Super-Soldaten etablierte, legte er sich das Pseudonym Stan Lee zu. Seinen richtigen Namen wollte er sich aufsparen, falls seine Pläne, DEN großen Roman zu schreiben, doch noch in greifbare Nähe rücken sollten. Lees erste Ko-Schöpfung war die Figur „Destroyer“, der zum ersten Mal in der sechsten Ausgabe von Timelys „Mystic Comics“ im Oktober 1941 auftrat. Weitere Kreationen folgten und sind noch dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ der Comics zuzuordnen. Der zielstrebige Autor verstand das Geschäft recht schnell und wurde kurz darauf zum Chefredakteur von Timelys Comic-Abteilung befördert. Von 1942 bis 1945 ging es für Lee dann aber zur Army, wo er während des Zweiten Weltkriegs beim Signal Corps diente und Kommunikations-Geräte reparierte, bevor er zur Training Film Division versetzt wurde und dort als Dramaturg an Cartoons und Trainings-Filmen arbeitete. Nach seinem Dienst zog es ihn zurück zu Timely, wo noch Großes auf ihn warten sollte…

„Comic books to me are fairy tales for grown-ups.“ - Stan Lee

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel der Comic-Markt in eine Art Depression. Das Verlangen nach strahlenden Superhelden war gestillt. Haltgebende Identifikationsfiguren wie Captain America, der Hitler auf dem Cover einer US-Ausgabe mit einem ordentlichen Schwinger den Schnauzbart gerade rückt, oder Superman, der beim Konkurrenz-Verlag den Ober-Nazi am Kragen packt und vors Kriegsgericht schleift, waren nicht mehr relevant und deren Strahlkraft verblasste zusehends. Nur die bekanntesten Superhelden überlebten auf dem ausgedünnten Markt. Erst Ende der 50er-Jahre erfolgte der nächste Paukenschlag, indem der DC Verlag seine Solo-Helden zur „Justice League of America“ formierte und gemeinsam gegen das Übel der Welt (und darüber hinaus) antreten ließ. Nicht verwunderlich also, dass Verleger Martin Goodman diesen geschickten Schachzug bald kontern wollte. So beauftragte er Stan Lee mit der Schöpfung eines Superhelden-Teams. Im November 1961 betraten die „Fantastic Four“ die Bildfläche, die Lee gemeinsam mit „Captain America“-Schöpfer Jack Kirby zu Papier brachte. Mr. Fantastic, die Unsichtbare, die menschliche Fackel und das Ding schlugen regelrecht ein wie eine Bombe und wurden zum kommerziellen Erfolg für die Firma, die man bis heute als MARVEL Comics kennt.

Den „Fantastischen 4“ folgten sehr bald weitere Neu-Kreationen aus dem „Haus der Ideen“ und ein regelrechter Superhelden-Boom entstand auf dem Comic-Markt. Der Konkurrenz von DC Comics setzte man „Iron Man“, „Doctor Strange“, den grünen Wüterich „Hulk“ oder den reanimierten „Captain America“ vor die Nase. Und womit? Mit ERFOLG! Marvel formierte mit den „X-Men“ und den „Avengers“ neue Helden-Teams, deren Besetzung im Laufe der Jahre munter wechselte und weitere Ableger produzierte. Ein schier grenzenloses, kreatives Universum tat sich auf. Aber Moment, fehlt da nicht noch einer… ?

„With great power comes great responsibility.“ - Stan Lee

Auftritt: Spider-Man! Mit der „Spinne“ erschufen Stan Lee und Steve Ditko einen Helden, der zu einer der bedeutendsten und wichtigsten Figuren der Verlagsgeschichte werden sollte. Bis heute ist die Beliebtheit der „freundliche Spinne aus der Nachbarschaft“ ungebrochen, was gleich mehrere laufende Comic-Serien, Kinofilme und Videospiele erfolgreich beweisen. Diesen Siegeszug konnte man im August 1962 noch nicht ahnen, als „Spider-Man“ sein Debüt in „Amazing Fantasy #15“ gab.

Dieser Erfolg ist vor allem der Kreativität Stan Lees zu verdanken, denn während andere Superhelden von fremden Planeten kommen, mit besonderen Kräften geboren werden oder gleich göttlichem Geblüt entstammen, sind seine Charaktere die, die mit dem Leser auf Augenhöhe stehen. Normale Menschen mit normalen Problemen, die ihr normales Leben führen, bis… ja, bis etwas Unvorhergesehenes geschieht und - zum Beispiel - ein Peter Parker von einer radioaktiven Spinne gebissen wird. Als hätte man zu High School-Zeiten keine anderen Probleme, muss der Bursche nun auch noch lernen, mit seinen neugewonnenen Fähigkeiten umzugehen. Ein cleverer Schachzug, einen Hauptcharakter im Alter der Hauptzielgruppe anzulegen und ihn durch seine Alltags-Probleme noch näher mit dem Leser zu verwurzeln.

Das menschliche in seinen Charakteren in den Vordergrund zu stellen war immer schon die Stärke von Stan Lee… und auch seine volle Absicht, wie er bereits mehrfach bestätigte. Nicht ganz unschuldig daran war seine Ehefrau Joan. Sie bestärkte ihren Mann darin, die Ideen, die er für eigene Romane mit sich trug, in seine Comic-Charaktere einfließen zu lassen. Darin bestand das damalige Erfolgsrezept der Marvel Comics. Ein Rezept, das auch heute noch wunderbar funktioniert und auch bei anderen Verlagen angewandt wird. Dieses Plagiieren kann man auch niemandem vorwerfen, denn wir Leser und Comic-Freunde sind es, die am meisten von den spannenden, packenden und immer komplexer werdenden Stories der Verlage profitieren. Universen, die sich immer wieder neu erfinden und trotzdem einer großen Kontinuität folgen, uns das Herz aus der Brust reißen, wenn mal wieder ein liebgewonnener Charakter über die Klinge springen muss, nur um in absehbarer Zeit wieder wie Phoenix aus der Asche zu steigen, regelmäßige Groß-Events, die uns mit Cliffhangern auf die Folter spannen und zum Release-Tag des neuen Heftes mit großen Augen zum Comic-Shop unseres Vertrauens pilgern lassen und natürlich die Kinofilme, deren Ankündigungs-Trailer regelmäßig das Internet explodieren lassen…

The King of Cameo

Nachdem die „X-Men“ (2000) es bei 20th Century Fox und „Spider-Man“ (2002) bei Sony erfolgreich vorgemacht hatten, beschloss man bei Marvel, ein eigenes Film-Universum auf die Beine zu stellen. „Iron Man“ legte 2008 den Grundstein für das „Marvel Cinematic Universe“ (kurz MCU) und bescherte seinem Hauptdarsteller Robert Downey Jr. seinen zweiten Frühling. In zehn Jahren brachte es das MCU auf mittlerweile 20 (in Zahlen: ZWANZIG!) Filme und der nächste potentielle Blockbuster steht mit „Captain Marvel“ schon für März 2019 an… bevor der „Avengers: Infinity War“-Nachfolger die Box-Office-Zahlen nur einen Monat später durch die Decke treiben wird.

Auch hier hatte Stan Lee seine Finger im Spiel. Nicht nur dass er als ausführender Produzent tätig war, er war auch in allen Filmen – und sogar den TV-Produktionen – in Hitchcock-ähnlichen Cameo-Auftritten zu sehen. Mal als Busfahrer, Bibliothekar, Nachtwächter oder Truck-Fahrer… die Fans haben regelmäßig auf seine Blitz-Besuche gewartet und wild spekuliert, ob etwas Größeres dahintersteckt. Anzeichen darauf gab es, als Lee 2017 in „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ mit den sogenannten „Watcher“ korrespondierte. Eine alte und mächtige Rasse, die das gesamte Universum observiert und den ersten Comic-Auftritt bei den „Fantastic Four“ im Jahr 1963 hatte.

Auch außerhalb des Marvel-Universums war Stan Lee ein gern gesehener Gast in Film und TV, wo er sich stets selbst portraitierte. So war er unter anderem im Psycho-Thriller „Ambulance“ an der Seite (und als Chef) von Eric Roberts zu sehen, trat in den Serien „Chuck“, „Heroes“, „Eureka“ und „The Big Bang Theory“ auf, gab sich die Ehre bei den „Simpsons“ und hatte Gastauftritte in zwei Filmen seines Autoren-Kollegen Kevin Smith („Mallrats“ und „Jay & Silent Bob schlagen zurück“).

„I see myself in everything I write. All the good guys are me.“ - Stan Lee

Am 28. Dezember wäre Stan Lee 96 Jahre geworden. Wie am 12. November bekannt wurde, wird die Comic-Legende diesen Tag nicht mehr erleben. Stanley Martin Lieber verstarb im Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles, wie seine Tochter Joan Celia Lee verlauten ließ. Bereits am 6. Juli 2017 starb seine Ehefrau Joan. Das glückliche Paar verband 69 gemeinsame Ehejahre.

Persönliche Gedanken

Ich selbst (Jahrgang 1979) bin bereits in frühster Kindheit mit Marvel-Comics – und Comics im Allgemeinen – in Berührung gekommen und konnte auch durch US-Comics mein Schul-Englisch eigenmächtig „aufpeppen“. Stan Lee ist mir daher seit langer Zeit ein Begriff und auch das, wofür er stand… und weiterhin stehen wird: Kreativität, die Liebe zum gedruckten Wort & Bild, das MENSCHLICHE im Menschen vor allem anderen zu stellen und Freude zu empfinden an dem, was man tut. An dem, was man GERNE und mit Herzblut tut.

Auch wenn Stan Lee schon lange nicht mehr aktiv auf dem Comic-Markt tätig war, werden seine Schöpfungen… wird sein Vermächtnis… weitergeführt und an neue Generationen herangebracht. Den Grundstein dafür hat ER gelegt und die liebgewonnenen Kreationen werden uns und unsere Nachkommen noch auf unbestimmte Zeit begleiten. Ein schöneres und wertvolleres Erbe kann man nicht hinterlassen.

Unzählige Male habe ich seine Beiträge in „Stan’s Soapbox“ gelesen… die meist letzte Seite des Comics, auf der Stan Lee sich mit ein paar Worten persönlich an den Leser richtete. Unzählige Male habe ich den armen Kerl in den Lego-Marvel-Videospielen gerettet, nachdem er in jedem Level in eine brenzlige Situation geraten war… nach erfolgreicher Rettung stets begleitet von einem dankenden „Excelsior!“, welches ich mit erhobenen Daumen und augenzwinkernd gerne annahm. Unzählige Male habe ich mich an seinen herrlich selbstironischen Film- und TV-Auftritten erfreut und werde dies auch weiter tun.

Leider kam ich nie in den Genuss, die Comic-Ikone in natura zu treffen und mir eventuell eines seiner Werke mit einer Unterschrift veredeln zu lassen. Wenn mir allerdings die Bilder in den Kopf kommen, wie Stan Lee im hohen Alter noch zu Conventions gebracht wurde, um dort im Akkord zu signieren und ihm schon fast würdelos Comics und andere Gegenstände unter die Nase geschoben wurden, wird mir ganz anders und ich bin froh, sowas nicht unterstützt zu haben. Solch ein respektloser Umgang macht mich einfach nur unendlich wütend… wütend und traurig.

Zu viel Trauer sollten die weltweiten Comic-Freunde allerdings nicht zulassen, denn obwohl das Ableben von Stan Lee eine große, fast unfüllbare Lücke hinterlässt, kann er auf ein langes und erfolgreiches Leben zurückblicken. Ein Leben, das er mit einem Job füllte, den er liebte. Mit einer Frau, die er liebte. Egal, in welchem der unzähligen Multiversen Mr. Lee jetzt verweilt… er ist dort wieder vereint mit seiner Joan.

Um es mit seinen Worten zu sagen: „Nuff said!“

"Stan Lee - 1922 - 2018" - Marcel Scharrenbroich, November 2018
Cover Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Panini Verlags GmbH
Foto "Stern am Walk of Fame":
iStock.com/Alphotographic

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