Film:
Polina

Film-Kritik von Marcel Scharrenbroich (02.2018)

Life is like a Dance

Ein steiniger Weg

Triste Plattenbauten ragen in dunkle Rauchwolken, die aus giftspuckenden Schornsteinen den Himmel über einem Moskauer Randbezirk in ein deprimierendes Grau verwandeln. Hier lebt das junge Mädchen Polina (Veronika Zhovnytska) zusammen mit ihren Eltern Anton (Miglen Mirtchev) und Natalia (Kseniya Kutepova). Die Familie aus einfachen Verhältnissen erträumt sich eine große Karriere für ihre tanzbegeisterte Tochter und strebt eine bessere Zukunft für ihr einziges Kind an. Um einen Ausbildungsplatz an der renommierten Ballett-Akademie des strengen, aber geachteten Professors Bojinski (Aleksey Guskov) finanzieren zu können, lässt sich Polinas Vater auf zwielichtige Geschäfte ein. Doch zuerst muss das Mädchen noch die harte Aufnahmeprüfung bestehen…

Unter den strengen Augen des Professors gelingt die Annahme an der Akademie und Polina beginnt, trotz einiger Kritik, ihre klassische Tanzausbildung, die sie einmal ans Bolschoi-Theater führen soll.

Dieser Schritt soll der mittlerweile herangewachseneren Polina (Anastasia Shevtsova) auch nach einigen harten und schweißtreibenden Jahren gelingen. Dort lernt die junge Frau den charmanten Adrien (Niels Schneider) kennen und folgt dem Franzosen, der ihre erste große Liebe darstellt, auch in sein Heimatland. Polina lernt eine Welt fernab des klassischen Balletts kennen und entdeckt ihre Leidenschaft für den ausdrucksstarken, zeitgenössischen Tanz. Unter der Lehrerin Liria Elsaj (Juliette Binoche), die ebenso wie Professor Bojinski nicht zimperlich mit ihren Schützlingen umgeht, eröffnen sich dem Paar neue Möglichkeiten, sich im modernen Tanz zu entfalten. Dieses Glück währt jedoch nicht von langer Dauer und nach einer Verletzung kommt es zum Bruch mit Adrien und ihrer Lehrerin.

Die desillusionierte Polina bricht alle Zelte ab und nimmt einen Kellner-Job in einer Antwerpener Bar an, um sich über Wasser zu halten. Sie beschließt, sich nicht mehr an die klassischen Konventionen des Tanzens zu halten und auszubrechen. Sie sucht nach sich selbst und einer Möglichkeit, sich auszudrücken. Choreograph Karl (Jeremie Belingard) unterstützt Polina nach ihren vielen, privaten Tiefschlägen bei dieser Suche und ihr Leben scheint sich langsam in geordnete Bahnen zu bewegen…

Eine Darstellung…

Die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Valérie Müller inszenierte „Polina“ zusammen mit dem Tänzer und Choreographen Angelin Preljocaj. Die Geschichte basiert auf der gleichnamigen, preisgekrönten Graphic Novel von Bastien Vivès aus dem Jahr 2011 (zur Rezension auf Comic-Couch.de). Um eine adäquate Hauptdarstellerin zu finden, die sowohl das Schauspiel, als auch die tänzerischen Anforderungen erfüllen konnte, wurden hunderte junger Frauen in Frankreich und Russland gecastet. Die Wahl fiel letztendlich auf die heute 22 jährige Anastasia Shevtsova, die als „Polina“ ihr Schauspieldebüt gibt. Der klassische Tanz war Shevtsova nicht fremd, denn sie lernte bereits im frühen Alter an der Waganowa-Ballettakademie des Sankt Petersburger Mariinski-Theaters, die zu den einflussreichsten Lehrstätten der Welt zählt. Ein Nebeneffekt der Dreharbeiten war, dass sie, ähnlich wie Polina im Film, eine Leidenschaft für den zeitgenössischen Tanz entwickelte, der vorher keine große Rolle in ihrem Leben spielte.

…mit Stärken…

Besonders hervorheben muss man ganz klar die fantastischen Tanz-Szenen. Egal, ob die des klassischen Balletts oder die perfekt choreographierten Modern Dance-Ausführungen. Ausgefallene und ästhetische Bewegungen, die ihre Tänzer fast wie berauscht aufs Parkett zaubern. Schweißtreibendes, hartes Training zeigt, dass eine Menge Disziplin und Ehrgeiz nötig ist, um diese schwebende Leichtigkeit zu präsentieren. Viele Verrenkungen der durchtrainierten Akteure tun schon beim Zuschauen weh und lassen Muskelkater an Stellen erahnen, von denen man nicht mal wusste, dass man dort Muskeln hat.

Bei einer Geschichte, bei der das Thema „Tanzen“ im Vordergrund steht, ist das Medium Film natürlich die ideale Plattform, um dieses optimal zu präsentieren. Man mag es kaum glauben, aber dieses Kunststück gelang Bastien Vivès sogar in seiner gedruckten Vorlage… wenn auch nur angedeutet. Seine feinen und präzisen Zeichnungen ließen den Leser die Bewegungen seiner Figuren förmlich spüren und vermittelten, trotz fehlender musikalischer Untermalung, eine Dynamik, die sich perfekt übertrug.

Darstellerisch wird in „Polina“ größtenteils solides Schauspiel von unverbrauchten, frischen Gesichtern geboten. Einzig die Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche (1997 für „Der englische Patient“) sticht als Polinas Lehrerin Liria Elsaj aus der eher unbekannten Darsteller-Riege heraus. Die französische Aktrice, bekannt aus Filmen wie „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, „Die Liebenden von Pont-Neuf“ oder „Chocolat“, überzeugt auch hier durch ihr Schauspiel, sowie durch ihre tänzerische Darbietung.

Eigentlich hätte man damit genügend Zutaten, um ein stimmiges Ganzes zu erschaffen: Einen starken Fokus auf den Tanz, der ja im Mittelpunkt der Geschichte steht. Frische Gesichter, die man als Zuschauer nicht beim ersten Blick in eine bekannte Schublade steckt. Eine erfahrene und oscarprämierte Darstellerin UND natürlich eine grandiose Vorlage, die die Rahmenhandlung vorgibt. Eigentlich.

…und Schwächen

Wenn ich die Polina aus Bastien Vivès Vorlage mit der von Anastasia Shevtsova dargestellten Figur vergleiche, muss ich leider gestehen, dass die Film-Polina viele Stärken vermissen lässt. Mir fehlen die Zielstrebigkeit und der Biss in ihrer Darstellung. Ihr teilweise müdes und lustlos wirkendes Spiel enttäuscht über weite Strecken und ich kaufe der Figur nicht ab, dass sie den eisernen Willen besitzt, in der oberen Liga mitspielen zu wollen. Die von Vivès beschriebene Polina macht eine spürbare Entwicklung durch und verwandelt sich vom unsicheren, jungen Entlein in den willensstarken Schwan, der ein Ziel hat und alles dafür tut, dieses zu erreichen. Wenn es dem Zuschauer an Empathie für den Hauptcharakter eines Filmes, der immerhin dessen Namen im Titel trägt, fehlt, wird es ein schwieriges Unterfangen und das Mitfiebern gerät zur Geduldsprobe… oder schlimmer noch, es ist einem einfach irgendwann egal. Wenn Polina im letzten Drittel des Films ein Fünkchen dieser Stärke aufblitzen lässt, ist es schon fast zu spät und so manchem Zuschauer dürfte ihr Schicksal dann schon, mehr oder weniger, gleichgültig sein.

Auch wenn die Schwerpunkte von Buch und Film anders gesetzt sind, kann die Adaption das Niveau ihrer Vorlage nicht halten. Die reichlichen Abweichungen zur Graphic Novel lassen zu viel vermissen. So wird beispielsweise Polinas Lehrer, Professor Bojinski, zur Randfigur degradiert, die glücklicherweise am Ende des Films doch noch eine Erwähnung findet. Bei Vivès lebt die ganze Geschichte von der Beziehung zwischen Polina und Bojinski und zieht sich durch ihre tänzerische Entwicklung. Seine Lehren sind auch in seiner Abwesenheit stets präsent und begleiten die junge Frau auf ihrem Karriereweg.

Das Hinzufügen von Polinas Familie, die sich bei dubiosen Geschäftspartnern verschuldet, um ihrer Tochter die Ausbildung zu ermöglichen, dient auch nur als Mittel zum Zweck, um dem Film eine weitere dramaturgische Ebene zu verleihen. Die eingefügten Elemente bedienen alle gewohnten Klischees, die man aus vielen, vielen anderen Filmen kennt und lassen die Chance, einen Film abseits des Mainstreams zu drehen, in Luft aufgehen. Treibende House-Beats wirken ebenso deplatziert und wären das letzte gewesen, was mir beim Lesen der Graphic Novel in den Kopf gekommen wäre… und das sage ich als leidenschaftlicher Befürworter elektronischer Musik. Die Zielgruppe, die die Macher mit ihrer Verfilmung erreichen wollten, scheint klar und so bleibt „Polina“, in meinen Augen, leider eine verpasste Möglichkeit, um das Thema des klassischen Balletts einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

Bleu, bleu, l’amour est bleu

Auf der technischen Seite der Veröffentlichung gibt es erfreulicherweise wenig, bzw. nichts zu beanstanden. Dass „Polina“ teilweise suboptimal ausgeleuchtet wurde und phasenweise düsterer erscheint als nötig, kann man nicht der Blu-ray anlasten… und schon gar nicht Capelight Pictures, die wieder einmal sehr gute Arbeit geleistet haben.

Die Scheibe bietet ein durchgehend klares und scharfes Bild in 1080p (2.40:1) und lässt keine Wünsche offen. Fehler und Unreinheiten sucht man vergebens. Die klare deutsche Tonspur kommt in DTS-HD Master Audio 5.1 und liegt auch in Französisch/Russisch vor. Deutsche Untertitel können auf Wunsch zugeschaltet werden.

Im Bonusmaterial der blauen Scheibe findet sich neben dem Kinotrailer ein 20-minütiges Interview, bei dem Darsteller und Crew-Mitglieder zu Wort kommen und interessante Details über die Produktion zum Besten geben. Ferner findet man noch diverse Trailer aus dem Capelight-Programm auf der Disc.

Abgerundet wird die gelungene Veröffentlichung noch durch eine 16-seitige Leseprobe zu Bastien Vivès‘ Comic-Vorlage, die in gedruckter Form beiliegt. Ein Wendecover ist natürlich ebenfalls vorhanden und lässt den lästigen FSK-Aufdruck glücklicherweise in Handumdrehen verschwinden.

Fazit:

„Polina“ bleibt leider weit hinter seinen Möglichkeiten zurück und verpasst eine Menge Chancen, aus dem mittlerweile haufenweise auftretenden Einerlei von Tanz-Filmen herauszustechen. Man war wohl nicht gewillt, Risiken oder Experimente einzugehen und geht klischeebehafteten Strukturen und dramaturgischen Zusatz-Plots nach, die der Zuschauer schon zuhauf in anderen x-beliebigen Coming-of-Age-Dramen bestaunen konnte. Einzig die herausragende, tänzerische Darbietung bewahrt „Polina“ knapp vor der Mittelmäßigkeit. Der Film droht sich mehrmals in Belanglosigkeiten zu verlieren und ist bemüht, seinen roten Faden und die damit verbundene Motivation im Auge zu behalten.

Wer die Wahl zwischen der minimalistisch skizzierten und ansprechenden Graphic Novel von Bastien Vivès und deren massentauglichen Verfilmung von Valérie Müller und Angelin Preljocaj hat, sollte eher zur gedruckten Variante greifen.

Wertung: 7  (Film: 6  |  Blu-ray: 8)
 


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Alle Fotos copyright: Capelight Pictures

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