Woyzeck

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Yannic Niehr
9101

Comic-Couch Rezension vonJul 2019

Story

Es liegt in der Natur der Sache, dass die hinterlassenen Fragmente den Wunsch nach mehr wecken, doch versteckt sich in diesen Bruchstücken schon Einiges. Leichte Kost ist dieser Titel dementsprechend aber definitiv nicht.

Zeichnung

Noch mehr Abbildungen von Woyzecks apokalyptischem Geisteszustand hätte man vertragen, doch ist das Jammern auf höchstem Niveau: Eikenroths vom frühen 20. Jahrhunderts inspirierte, kunstvolle visuelle Bearbeitung überzeugt auf ganzer Linie.

Ein guter Mensch?

Der einfache Wehrmann Franz Woyzeck hat es nicht leicht: sein spärlicher Soldatensold reicht kaum zum Überleben, und fast alles davon geht an seine geliebte Marie und das uneheliche Kind. Um aufzustocken erledigt Woyzeck noch niedere Dienste für seinen Hauptmann. Auch gibt er sich für die medizinischen Experimente des Doktors her, im Rahmen derer er auf eine Diät gesetzt wird, die ausschließlich aus Erbsen besteht, was seiner Gesundheit nicht gerade zuträglich ist. Verständnis für seine Situation hat keiner, vor allem nicht der Hauptmann und der Doktor, die ihn schamlos ausnutzen, ohne sich auch nur im Geringsten um ihn zu scheren, und ihn sogar öffentlich belächeln. Irgendwann wird einfach alles zu viel: Woyzeck hört Stimmen, die immer lauter werden, und schließlich ist das Gewirr in seinem Kopf nicht mehr unter Kontrolle zu kriegen. Als Marie dann auch noch, weil sie sich einsam fühlt (ironischerweise ja deswegen, weil Woyzeck sich ständig für sie und das Kind aufreibt), eine Affäre mit dem stattlichen Tambourmajor anfängt, nimmt das Unheil seinen Lauf…

„Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und der andren Welt“

Die obige Zusammenfassung ist nur eine von vielen möglichen, denn Büchner konnte Woyzeck aufgrund seines vorzeitigen Todes nie fertigstellen. Von dem Drama geblieben sind lediglich Bruchstücke, deren geplante Anordnung nie abschließend geklärt werden konnte. Daher rührt auch die Bezeichnung dieses Bandes als „eine grafische Inszenierung nach den Fragmenten von Georg Büchner“: Fragmente, weil Woyzeck anstelle eines ausgearbeiteten Theaterstücks eben genau das ist; und grafische Inszenierung, weil man den Ansatz von Andreas Eikenroth kaum einen herkömmlichen Comic nennen kann.

Der ein oder andere wird Woyzeck vielleicht aus dem Schulunterricht kennen. Eikenroth hingegen ist durchaus als Experte des Stoffes zu bezeichnen, denn nicht nur lebt er in Gießen, was darin als Schauplatz dient, sondern arbeitet er auch am Gießener Stadttheater, wo er an den verschiedensten Inszenierungen und Adaptionen des Werkes kaum vorbeikam. Daraus entstand die Idee, sich des Ganzen einmal selbst anzunehmen. Die Handlung wurde vom frühen 19. in ein frei interpretiertes, frühes 20. Jahrhundert verlegt (somit näher an der tatsächlichen Uraufführung von Woyzeck 1913), was, wenn es überhaupt auffällt, der Story sogar eher zugutekommt, denn das wilde, dreckige, hektische und verwirrende Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung lässt sich fast nahtlos mit Büchners Themen zusammenfügen.

„Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“

Wie im sehr persönlichen und erhellenden Vorwort beschrieben, hat sich Eikenroth von Künstlern der jungen Weimarer Republik inspirieren lassen (ohne diese durch und durch authentisch abbilden zu wollen). Der leicht groteske, expressionistische Stilmix, der dabei herausgekommen ist, erinnert mit seinen Ecken und Kanten und seinem Spiel mit Perspektive auch an berühmte Filmwerke der Zeit, wie z.B. Das Cabinet des Dr. Caligari. Dabei nutzt Eikenroth keine klassische Panelaufteilung, sondern legt die Szenen jeweils auf einer Seite an – der Dialog wird sozusagen in mehreren räumlichen und zeitlichen Ebenen gleichzeitig dargestellt. So entsteht ein verschachtelter Fluss, der die jeweilige Stimmung passend einfängt und ohne Schwierigkeiten vermittelt, was gerade geschieht. Eine klarere Abgrenzung der einzelnen Szenen hätte man sich vielleicht wünschen können, aber gerade der durch dieses in-einander-Übergehen entstehende desorientierende Effekt bildet sowohl die bruchstückhafte Form des Originals als auch das psychische Innenleben des sich ständig gehetzt fühlenden und immer mehr der Zurechnungsfähigkeit entgleitenden Woyzeck nach.

Sprachlich hat Eikenroth das ein oder andere heutzutage völlig ungeläufige Wort modernisiert, sich aber ansonsten klar des Originaltextes bedient, der das zentrale Motiv einer hierarchischen Zweiklassengesellschaft durch die Disparität der Ausdrucksweisen der Figuren hervorbringt. Dabei bedienen sich die Figuren „niederen“ Standes einer umgangssprachlichen und dialektgefärbten Mundart, während die Vertreter von Oberschicht und Wissenschaft sich gewählter artikulieren, dadurch aber offensichtlich jeglichen Bezug zur Lebenswirklichkeit der ihnen Unterstehenden verlieren. Am Ende wird dann der Druck von allen Seiten zu groß, was in Mord und Totschlag gipfelt. Abschließend bleibt dem von der Gesellschaft gebeutelten und vergessenen Woyzeck nur die Selbstzerstörung. Gekonnt hält Eikenroth die Balance zwischen dem zynischen Fundament und dem leisen, charmanten Humor, der in Büchners Werk durchklingt. Beides bringt er im Spannungsverhältnis zwischen Text und seinen Bildern auf den Punkt, und das auf eine Art und Weise, die nicht nur unterhaltsam ist, sondern auch echte Kunst.

Fazit:

Ein sperriges Stück Theatergeschichte, das bis heute fasziniert und in seiner Sozialkritik nach wie vor Zündstoff enthält – denn manchmal werden die, die schon ganz unten stehen, eben in die Rolle des ewigen Verlierers gedrängt, ohne Chancen, ohne Ausweg. Gelegentlich reagiert darauf einer mit Gewalt, die sich dann oftmals auch noch – so wie hier – gegen die völlig Falschen richtet. Wer sich für diese Art von Drama interessiert, der erhält in diesem Band eine originelle und künstlerisch hochwertige Bearbeitung. Ein absoluter Geheimtipp!

Woyzeck

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