Wannsee: 1942

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Yannic Niehr
9101

Comic-Couch Rezension vonOkt 2019

Story

Das Bild der toten Ratte wäre vielleicht das stimmigere Ende gewesen – insgesamt ist die Präsentation der erschreckenden Ereignisse aber genau richtig und wird noch durch einen informativen Anhang abgerundet.

Zeichnung

Hier hat Le Hénanff alles richtig gemacht: Farblosigkeit und Tristesse herrschen vor, um die historisch glaubwürdigen und nur leicht künstlerisch überhöhten Geschehnisse ins rechte Licht zu rücken. Der Stil ist schnörkellos und intelligent.

„Sie sind sich darüber im Klaren, welches Erbe wir den kommenden Generationen hinterlassen…“

20. Januar 1942: ein ausgesprochen kalter, jedoch ansonsten unscheinbarer Wintertag in einem Berliner Nobel-Vorort. In einer leerstehenden Villa nahe des Wannsees wird jedoch an diesem Tag Geschichte geschrieben. Unter der Leitung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich treffen sich 15 hochrangige Nazi-Funktionäre – darunter Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Ministerialdirektor der Reichskanzlei Wilhelm Kritzinger, Vertreter des Justizministeriums Dr. Roland Freisler, Staatssekretär und Mitverfasser der antisemitischen Nürnberger Gesetze Dr. Wilhelm Stuckart, Gestapo-Chef Heinrich Müller, und weitere – zu einer streng geheimen Konferenz. Einziger Tagesordnungspunkt: die sogenannte Judenfrage sowie das Besprechen ihrer möglichst endgültigen Lösung.

„Wir alle beschäftigen uns jetzt mit dem Plan für die nächsten tausend Jahre!“

Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte – das Dritte Reich und seine unfassbaren Auswüchse – fasziniert und bewegt die menschliche Kultur bis heute, und das zurecht. Natürlich muss es demgemäß auch der Kunst erlaubt sein, sich mit den Gräueltaten Hitlers Regimes zu befassen und diese zu verarbeiten, auch wenn man sich damit der Gefahr aussetzt, sich Geschmacklosigkeit vorwerfen lassen zu müssen (u.a. diesen Aspekt beleuchtet auch Didier Pasamonik in seiner erhellenden Vorbemerkung). Natürlich wandeln solche Werke auf einem schmalen Grat: manche tappen in die Falle, die nachweislich und nachhaltig wirkungsvolle faschistische Ästhetik à la Riefenstahls „Triumph des Willens“ zu unkritisch zu reproduzieren, andere geraten abgeschmackt, rührselig oder erheben zu gewollt didaktisch den moralischen Zeigefinger. Im Angesicht dieser Schwierigkeit stellt sich natürlich von vorneherein die Frage: die Wannsee-Konferenz als Graphic Novel – geht das?

„Sie werden die richtige Entscheidung treffen…“

Le Hénanffs Werk schafft es, diese Frage klar zu bejahen. Akribisch aus Zeitdokumenten recherchiert (nur eine der Protokollabschriften wurde im Nachhinein aufgefunden und gilt als eine der wichtigsten Quellen in dieser Sache), bemüht sich Le Hénanff um eine möglichst realistische, faktenbasierte Chronologie der Ereignisse - auch wenn sich eine solche nicht komplett rekonstruieren lässt und die Fantasie unabdingbar aushelfen muss. Dabei haben diejenigen, die von den Auswirkungen dieser Konferenz betroffen sein werden – vorrangig Millionen europäischer Juden – keinerlei eigene Stimme in dieser Graphic Novel; vielmehr bleibt man als Leser an der Sicht der Teilnehmer verhaftet. Dies ist nur konsequent, denn damit wird praktisch von selbst der erschreckende Machtmissbrauch deutlich, mit welchem ganz beiläufig das Schicksal so vieler Menschenleben besiegelt wird. Thematisch im Vordergrund des Werkes steht somit die nüchterne, bürokratische Abgeklärtheit, mit der die Besprechung abläuft – das, was Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess bekanntermaßen die „Banalität des Bösen“ taufte. Das wird dem Leser allerdings nicht aufgedrängt, sondern offenbart sich automatisch, wenn man zwischen den Zeilen der oftmals unaufgeregten, beinahe gelangweilten Aussagen, die Hénanff formuliert, liest, und aus den Euphemismen, die im Laufe der Konferenz genutzt werden, um unschöne Begriffe aus der Beamtensprache, in welcher sie protokolliert wird, herauszuhalten (so ist von der „Evakuierung“ der Juden die Rede, womit ja etwas ganz anderes gemeint ist). Die Graphic Novel bietet so gut wie keine expliziten Gewaltdarstellungen, und hat das auch gar nicht nötig – wenn Menschen zu Statistiken werden, zu Zahlen, mit denen um sich geworfen wird wie bei der Abschreibung von Waren, ist dies beinahe erschütternder, als tatsächliche Brutalität zu sehen.

Einzige Ausnahme ist das Massaker von Babi Jar in Kiew, bei dem zehntausende Juden von der Wehrmacht zusammenbeordert, nackt ausgezogen und schließlich erschossen wurden. Diese Panels zerteilt Le Hénanff in der Form eines Davidsterns, und sie kommen ohne Text aus. Das letzte Panel der Seite zeigt Leichenberge, das erste Panel der Folgeseite die Fleischberge des Buffets, welches die Konferenzteilnehmer genüsslich mit ihrem Besteck bearbeiten – ein groteskes Bild, das zu dick aufgetragen hätte sein können, im Gesamtkontext aber hervorragend funktioniert und lange nachwirkt. Eine andere Seite füllt ein Porträt des Führers, in dessen Schatten sich Heydrich und Eichmann vorbesprechen. Dieses ist allerdings nicht am Stück zu sehen, sondern in mehrere Panels unterteilt – keine überwältigende Wucht, sondern ein aus vielen Kleinteilen bestehendes Mosaik, so wie die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz als kleine Zahnrädchen in der pragmatischen, industriellen Tötungsmaschinerie fungieren, die hier vorbereitet wird. Die Illustrationen sind in Sepia- und Grautönen gehalten, mit gelegentlichen Klecksen, die an getrocknetes Blut erinnern. Die Akteure sind ihren historischen Fotos nachempfunden, was zusätzlich für Authentizität sorgt. Stimmungsvoll fängt Le Hénanff die trist-trübe und finster-freudlose Stimmung dieses farblosen Tages ein. Die Vorgänge im dunklen Sitzungszimmer werden dem Betrachter diesig präsentiert, als würde man ihnen durch den Dunst der Geschichte hindurch beiwohnen.

Fazit:

Vielleicht in Anlehnung an Art Spiegelmans berühmtes, inhaltlich verwandtes Comicwerk „Maus“ entfaltet sich eine Parallelgeschichte, bei der Ratten in die Küche der Villa geraten und ein Kampf mit einer Katze entbrennt. Sachlich wird die Sitzung im Einvernehmen aller Beteiligten über das auf sie zukommende Vorhaben geschlossen, und die Ratte liegt tot am Boden – als Leser bleibt man mit flauem Gefühl im Magen zurück. Genau diesen Effekt wollte Le Hénanff wohl erzielen, und es ist ihm geglückt. Ein Experiment, das gehörig hätte schiefgehen können, bringt etwas Wichtiges und Brillantes hervor, das keine leichte Kost ist, aber unbedingt lesenswert!

Wannsee: 1942

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