Text:   Zeichner: Zerocalcare

Vergiss meinen Namen

  • Avant
  • Erschienen: April 2022
  • 0
Vergiss meinen Namen
Vergiss meinen Namen
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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonJul 2022

Story

Unglaublich, dass mich die Familiengeschichte eines italienischen Comic-Zeichners, der mir persönlich nicht bekannt ist, derart mitgerissen hat. Jetzt, nach der Graphic Novel, fühl ich mich fast wie ein alter Bekannter... und ich will ein verdammtes Gürteltier!!!

Zeichnung

Fantasievolles Charakterdesign und das perfekte Timing, wenn es um auflockernde Lacher geht.

Zwei Aufgaben und jede Menge Fragen

Level-Up

Für manche Menschen ist das ganze Leben ein Abenteuer, für andere ein Quiz… und für wieder andere nur ein Spiel. Fest steht aber, dass am Ende der dicke Endgegner wartet, gegen den bisher kein Kraut, keine Antwort und kein Loot gewachsen sind. Ein Schlag… Finito. Früher oder später müssen wir uns mit dem Tod auseinandersetzen, ob es uns passt oder nicht. Wer schonmal ein Familienmitglied oder einen Freund in den letzten Zügen begleitet hat, wird wissen, wie man sich in einer solchen Extremsituation fühlt. Wenn dann aber die Zeit des Abschieds gekommen ist, wie verhält man sich da? Tröstende Worte? Schnell noch über ein paar Belanglosigkeiten plaudern, um die eigene Unsicherheit zu überspielen? Blickkontakt meiden, damit der oder die Sterbende nicht in den Augen sieht, dass der letzte Zug bereits an Fahrt aufnimmt? Schwierig. Und vor allem situationsbedingt. Meist handeln wir intuitiv… und erkennen erst im Nachhinein, was noch hätte optimiert werden können. Trotzdem wachsen wir an solchen prägenden Momenten. Lernen etwas über das Leben. Über uns. Dennoch wappnet uns die Erfahrung nicht für die nächste Konfrontation mit dem Unausweichlichen. Und wieder einmal werden wir danach schlauer sein… so lange es nicht unsere trüben Blicke sind, denen jemand unsicher ausweicht.

Zerocalcare hat ein solches Erlebnis am Sterbebett seiner Großmutter. Rückblickend erinnert er sich vor allem an die regelmäßigen Zoo-Besuche mit ihr. Auch an die Zeit, als er als Kleinkind eine Weile (gut, es war nur eine Woche) bei ihr lebte, weil er sich nach einem prägenden Zwischenfall mit einem Stück Schinken in der Speiseröhre weigerte, weiterhin Nahrung zu sich zu nehmen. Der Kinderarzt empfahl einen Tapetenwechsel, zum Leid der Eltern. Diese Kindheitserinnerungen sind noch sehr präsent… und nun ist sie für immer fort.

Zero bekommt die eigentlich simplen Aufgaben, Großmutters Adressbuch und ihren alten Ring aus der Wohnung zu holen, zugeteilt. Es war ihr Wunsch, mit dem Ring beerdigt zu werden. Ein Geschenk aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit, hmmm… Bei genauerer Überlegung wird Zero klar, wie wenig er eigentlich über seine Oma weiß. Er weiß, dass sie Französin war und aus einem kleinen Kaff in der Provence kam. Irgendwo in der Nähe von Nizza. Ebenfalls weiß er, dass sie sich im Problembezirk Rebibbia alles andere als wohlfühlte. Sie schämte sich regelrecht, den Namen des römischen Stadtgebiets in den Mund zu nehmen. Ganz anders als ihr Enkel, den keine zehn Pferde aus Rebibbia befördern könnten. Muss so ein Generationending sein, aber Omi war in letzter Zeit eh nicht mehr auf der Höhe. Das wird auch schnell klar, als Zero und Kumpel Secco in den Habseligkeiten der Verstorbenen stöbern. Dabei fördern sie Dinge ans Tageslicht, die Fragen aufwerfen. Fotos, Notizen… Zero wird klar, dass es unausgesprochene Geheimnisse gibt, und nutzt seine blühende Fantasie, um so manches Kapitel genauer zu durchleuchten.

Fundgrube

2017 hatte der AVANT-VERLAG bereits die Graphic Novel „Kobane Calling“ aus der Feder von Zerocalcare veröffentlicht. Darin berichtete der Italiener, der gebürtig Michele Rech heißt, von seiner Reise ins türkisch-syrische Grenzgebiet. Wer dabei ein staubtrockenes Reisetagebuch erwartet hatte, wurde schnell eines Besseren belehrt, denn seine Beobachtungen hielt er mit schockierender Ehrlichkeit, in Wunden bohrend und mit zynischer Treffsicherheit fest. In „Vergiss meinen Namen“ geht er nun vergrabenen Familiengeheimnissen auf die Spur, was das aktuelle Werk noch persönlicher macht. Seiner Kreativität sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Zerocalcare wirft Vergangenheit, schwammige Erinnerungen, Hypothesen und zahlreiche Popkultur-Referenzen in einen Topf und bringt eine gleichermaßen bewegende wie brüllend komische Graphic Novel hervor, die man als Freund der Neunten Kunst gelesen haben sollte. Meisterhaft mischt er Realität und Phantastik. Dabei kommt auch wieder sein imaginärer Sidekick – ein ins Gewissen redendes Gürteltier – zu Wort, was immer wieder für auflockernde Momente sorgt.

Für die Darstellung seiner Familienmitglieder greift Zerocalcare gerne mal auf die Tierwelt zurück. So wird zum Beispiel seine Mutter zur beleibten Glucke, die nicht von Ungefähr an Lady Kluck aus Disneys abendfüllendem Zeichentrickfilm „Robin Hood“ erinnert, während die junge Großmama zum putzigen Küken wird. Der forsche Kinderarzt wird zu Leonidas aus dem Film „300“ und ein sprechender Fuchs, die einzig farblich dargestellte Figur, wird zum Schlüsselelement.

Wer einen NETFLIX-Account sein Eigen nennt, kann sich schon mal in die abgedrehte Welt von Zerocalcare hineinfuchsen. Dort steht die sechsteilige Animationsserie „An der perforierten Linie abreißen“ zum Abruf bereit, in der der Italiener abenteuerlich-skurril aus seinem Leben erzählt.

Fazit:

Ganz große Erzählkunst. Zeros bewegende Familiengeschichte hat mit mitgerissen, bewegt und laut auflachen lassen. Eine perfekte Mischung aus Nostalgie, Drama, Popkultur-Sammelsurium und der nötigen Portion Wahnsinn.

Vergiss meinen Namen

Zerocalcare, Zerocalcare, Avant

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