Born to be WIIIIILD!
Was dem einen sein Rudel, ist dem anderen die Kolonie
Im Waldkrankenhaus herrscht reges Treiben. Ja, ja, auch in der Tierwelt gibt es eine Art Emergency Room für Notfälle aller Art… nur eben ohne George Clooney (für die Jüngeren: das war so ein netter Onkel, den ALLE – selbst Männer – ganz doll und ohne Neid mochten). Dafür fährt die Freiluft-Klinik mit Maulwurf-Schwester Erdmute nicht minder begabte Fachkompetenz auf, wenn es um das Verpflegen der Patienten geht. Unter ihnen auch ein krankes Häschen. Unser neuer kleiner Freund holt sich dort regelmäßig Infusionen ab, um bald wieder gesund durch die Botanik hoppeln zu können. Doch so zierlich der kleine Racker auch aussieht, steckt unter seiner flauschigen Oberfläche ein Kämpferherz mit Überlebenswillen. Leider noch sehr, sehr tief im Pelz vergraben, weshalb der Nager übervorsichtig und verängstigt erscheint. Das merkt auch gleich der natürliche Fressfeind des freundlichen Gesellen: ein großer, grauer Wolf.
Dem Wolf hat es mal wieder ordentlich den Pelz perforiert, weshalb er sich seine neuste Schusswunde von Schwester Erdmute versorgen lässt. Doch wer bei einem Maulwurf schon mal einen Sehtest durchgeführt hat (und wer hat das nicht?), wird verstehen, warum ihre Spezies und spitze Gegenstände nicht die beste Kombination sind. Kurz gesagt: der Wolf zieht es vor, seine Wunde Rambo-like eigenhändig zu nähen. Selbst ist der Mann… äh, Wolf. Frisch wieder zusammengezimmert, bleibt das leckere… ich meine natürlich putzige Häschen dem Wolf nicht lange verborgen. Ein kurzer Geruchstest lässt seinen Appetit aber schnell wieder verschwinden, denn der chemische Cocktail aus dem Tropf schreit nicht gerade nach Festschmaus. Viel Zeit zum Kennenlernen bleibt dennoch nicht.
Als sich Jäger dem Waldkrankenhaus nähern, bricht Panik aus und die Tiere strömen in alle Himmelsrichtungen. Der Wolf, der Schrot und Blei anzuziehen scheint wie die Motten das Licht, kann sich glücklich schätzen. Bevor eine Kugel ihm erneut das Fell durchsieben kann, prallt sie am Tropf-Gestell des Häschens ab. Pures Glück? Nicht für den Wolf, denn er sieht in unserem kleinen Freund seinen Lebensretter. Und in diesem Falle greift der [an dieser Stelle bitte dramatische Musik vorstellen] … WOLFSKODEX! Soll heißen, dass der Gerettete in der Schuld seines Retters steht und ihn von nun an beschützen muss. Ehrensache! Dass die ganze Nummer mit Häschens Behandlungsplan sich aber über fünf Monate hinziehen soll, kommt jetzt selbst für den Wolf überraschend. Hach, man steckt halt nicht drin… aber Kodex ist Kodex. Also nimmt der grummelige Fleischfresser den kleinen Patienten unter seine Fittiche. Anfänglich distanziert und grob, doch auch unter einem grauen Wolfspelz kann ein Herz aus Gold pochen.
So muss das ungleiche Gespann sich nicht nur mit den Nebenwirkungen der Therapie des Nagers herumschlagen, sondern auch noch Artgenossen von Herrn Wolf fernhalten, die ihren Brudi gern in den Reihen ihres Rudels aufnehmen würden. Außerdem ist den beiden ein ganz besonders hartnäckiger Jäger dicht auf den Fersen. Und so eine halsbrecherische Jagd über Stock und Stein… UND MIT TROPF… sorgt für mächtig Radau in der sonst so idyllischen Natur. Da darf auch gerne mal lauthals ein Steppenwolf-Klassiker ins Grün gebrüllt werden… lookin‘ for adventure, in whatever comes our way…
Zu Risiken und Nebenwirkungen…
Als wäre das kleine Häschen an sich nicht schon derart niedlich, dass bei jedem, der dieses Buch in die Hand nimmt, unweigerlich der Beschützerinstinkt reinkickt, hat die Schöpferin dieser einfühlsam erzählten Geschichte dieses auch noch mit einem schweren Schicksalsschlag bedacht. Beim Blick auf den endlos langen Zettel mit Nebenwirkungen, den der kleine Kerl neben seinem Mediplan mit sich herumschleppt, zerreißt es einen schon gleich zu Beginn. Das tat Josephine Mark aber nicht aus dramaturgischen Gründen oder um uns noch empfindsamer zu machen, sondern aus dem Grund, dass sie in „Trip mit Tropf“ ihre eigene Krankheitsgeschichte verarbeitet. Die Idee zu diesem mutmachenden Comic kam ihr während ihrer Behandlung. Ihr tapferes Häschen verliert nach und nach sein Fell, kämpft mutig gegen die Erschöpfung und bekommt Nasenbluten. Dennoch vermeidet es Josephine Mark, der Krankheit des Hasen einen Namen zu geben. Das ist auch gar nicht nötig, denn mit ihrer Nichtnennung nimmt sie ihr regelrecht den Wind aus den Segeln. Fünf simple Buchstaben, die in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt eine Schockdiagnose ergeben und ein ganzes Leben auf den Kopf stellen können. Doch Aufgeben ist keine Option. Nicht für Josephine Mark, und ebenso nicht für ihre goldig gezeichnete Hauptfigur.
„Trip mit Tropf“ rührt einen und geht ans Herz, ja, doch in diesem Buch steckt noch so viel mehr. Vor allem ist es eine Geschichte über Freundschaft. Freundschaft, die dort entsteht, wo man sie am wenigsten verorten würde. Zwischen zwei Figuren, von denen höchstens eine die andere zum Fressen gernhätte. Daraus ergeben sich natürlich aberwitzige Situationen, die Josephine Mark in einem simplen aber überaus effektiven Stil umgesetzt hat. Mag der Look ein reines Kinderbuch versprechen, würde ich dies klar abstreiten. Natürlich ist die charmante Geschichte auch für jüngere Leserinnen und Leser geeignet (vom Verlag ab 12 Jahren empfohlen), dem Alter aufwärts sind aber keine Grenzen gesetzt. Erwachsene lesen vielleicht eher zwischen den Zeilen und können richtig viel aus „Trip mit Tropf“ mitnehmen.
Ausgezeichnet!
Ich hatte Anfang April das große Vergnügen, die sympathische Künstlerin Josephine Mark wohlauf im Rahmen einer Lesung zu treffen. Auf schwer unterhaltsame Weise vertonte sie ihr Werk mit unterschiedlichen Facetten und Stimmlagen. Diese Ehre kam auf Lesungen im Kölner-Raum schon Ralf König, dem Schöpfer von „Der bewegte Mann“ und „Konrad und Paul“, zuteil, da er dort den Part des mürrischen Wolfs las. König ist es auch, der „Trip mit Tropf“ auf der Rückseite des Buches in höchsten Tönen lobt. Und ich kann ihn voll und ganz verstehen. Der Buddy-Roadtrip ist durch und durch herzlich, humorvoll und abenteuerlich. Das sah auch die Jury des renommierten „Max-und-Moritz-Preises“ so, der zuletzt 2022 im Rahmen des Comic-Salon Erlangen verliehen wurde. „Trip mit Tropf“ (aus dem KIBITZ Verlag) wurde dort als „Bester Comic für Kinder“ ausgezeichnet.
In der LUDWIGGALERIE im Schloss Oberhausen kann man noch bis zum 11. Juni 2023 die Ausstellung „AUSGEZEICHNET!“ besuchen, in der die Werke aller Preisträger bewundert werden können. Darunter natürlich auch „Trip mit Tropf“ von Josephine Mark. Neben einem Blick ins Buch kann man dort in schöner Atmosphäre ebenfalls ein Auge auf Skizzen, Texte und getuschte Seiten werfen.
„Trip mit Tropf“ wurde mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzt. Unter dem Titel „Voyage de malade“ (GALLIMARD) erschien das Buch beispielsweise bei unseren Comic-affinen französischen Nachbarn. Das schafft bei Weitem nicht jede deutsche Veröffentlichung. Aktuell ist „Trip mit Tropf“ für den Deutschen Jugendliteratur Preis nominiert.
Fazit:
Josephine Mark, Schöpferin des ebenfalls ausgezeichneten Western-Comics „Murr“ (ZWERCHFELL), hat mit „Trip mit Tropf“ eine ebenso warmherzige wie abenteuerliche Graphic Novel für alle Altersklassen geschaffen. Selten wurde eine Geschichte über Krankheit mit mehr Herz erzählt. Schwer empfehlenswert… und ganz ohne Nebenwirkungen.
Josephine Mark, Josephine Mark, Kibitz
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