Text:   Zeichner: Mathieu Bablet

Shangri-La

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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonSep 2021

Story

Konsum- und Gesellschaftskritik in einem. Hier werden viele Themen in den (Welt)raum geworfen, die man als Konsument erstmal sacken lassen muss. Nichts für zwischendurch und durchaus aufwühlend.

Zeichnung

Sieht man von Bablets abstrakten „Menschen“ ab, bekommt der geneigte Sci-Fi-Fan ein gelungenes Genre-Feuerwerk geboten. Das überformatige SPLITTER-Hardcover in Alben-Größe bietet die perfekte Präsentation.

KAUFEN! KAUFEN! KAUFEN!

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Die Zukunft. Wann genau, sei mal dahingestellt… jedenfalls zu einem Zeitpunkt, an dem unsere Erde bereits – oh Wunder – das Schlimmste hinter sich hat. Sprich, sie hat uns Menschen irgendwie überlebt. Schwer verletzt, jedoch unbewohnbar für nachfolgende Generationen. Die Menschheit zog sich daraufhin in die Tiefen des Alls zurück. An den genauen Grund erinnert sich kaum noch jemand. Lag es an einem der unzähligen Kriege, der letztendlich aus dem Ruder lief? Oder am Wassermangel, durch den keine Atomreaktoren mehr gekühlt werden konnten? Was es auch war… wir haben’s verkackt und wurden von Mutter Natur vor die Tür gesetzt. Dorthin, wo wir vermeintlich keinen Schaden mehr anrichten können…

Nun gibt es nur noch TIANZHU ENTERPRISES. Jenen mächtigen Konzern, dem die Menschen der „neuen“ Welt dienen. Nur ein flüchtiger Blick von der USS THIANZU lässt vermuten, wie das Leben auf dem blauen Planeten im 21. Jahrhundert wohl gewesen sein könnte. Viel Zeit bleibt den Bewohnern der gigantischen, im All schwebenden Kolonie dazu aber nicht, denn ihr Alltag ist streng durchgetaktet. Jeder hat seine ihm zugeteilte Aufgabe. Die Firma koordiniert alles. In engen, sperrigen Wohnzellen untergebracht, lassen sich Tages- und Nachtzeit nur erahnen. Oder ablesen. Oder die Firma erinnert daran, wann etwas zu tun und zu lassen ist. Die Firma gibt Arbeit, Wohnraum und zahlt Gehalt. Und mit dem Geld wird konsumiert. Natürlich Produkte der Firma. Somit fließt das Geld dahin zurück, wo es herkam… bis es kurzzeitig wieder in der eigenen Tasche landet. Ein simpler Kreislauf. Und reicht der Lohn nicht aus, wird ein Kredit aufgenommen… natürlich großzügig von der Firma zur Verfügung gestellt. Hauptsache der Konsum stoppt nicht. Dafür sorgt überdimensionale, penetrante Werbung, die selbst dem abgebrühtesten Marketing-Profi die Blässe ins Gesicht treiben würde. Dagegen ist jede neue iPhone-Präsentation kalter Kaffee von vorgestern. KONSUMIERT! KAUFT! Und vor allem… STELLT KEINE FRAGEN!

Eine der Arbeiterbienen im gewaltigen, metallischen Bienenstock ist Scott Peon. Scott hinterfragt das System nicht. Er ist glücklich damit, wie es ist, und kann sich kein besseres Leben vorstellen. Und so denken viele auf der USS TIANZHU. Sie gehen ihrer Arbeit nach, stellen keine unangenehmen Fragen und tun das, was ihnen gesagt wird. Orwells „1984“, „Equilibrium“, „Die Insel“ und Carpenters „Sie leben“ lassen grüßen. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Eine davon gehört Scotts entfremdeten Bruder Virgil. Gut zureden nützt Virgil und seinen Mitstreitern, die das System in Frage stellen, nicht, denn Scott scheint TIANZHU ENTERPRISES gegenüber hörig zu sein.

Dass jeder sich einmal irren kann, erfährt Scott, der für den Firmenvorstand verlassene Außenposten untersucht, welche durch mysteriöse Explosionen – ausgelöst durch Experimente mit Materie – schwer beschädigt wurden, bald am eigenen Leib. Bald kann er die Augen nicht mehr vor dem kranken und krank machenden Apparat verschließen, in dessen Mühlen er sich befindet. Eine Uhrwerk-Welt mit mehr Schein als Sein, in der synthetische Animoiden – vermenschlichte Tiere, die ausgebeutet und unterdrückt Fußabtreter Radikaler sind – als nicht lebenswert erachtet werden und im Höchstfall die zweite Geige spielen. Durchschimmernder Hass an allen Ecken und Enden. Nein, die Fassade hat tiefe Risse. Bröckelt bedrohlich. Als TIANZHU ENTERPRISES dann noch Gott spielt und selber Leben erschaffen will, ist dies keineswegs ein neuer Anfang…, sondern der Anfang vom Ende.

KAUFEN! KAUFEN! KAUFEN!

Reden wir über Konsum… und das Ende der Zivilisation, was… in diesem Fall sogar Hand in Hand geht. So trostlos die Zukunft in „Shangri-La“ erscheinen mag, umso höher ist das Tempo, in dem wir auf eine solche Dystopie zurasen. Befinden wir uns nicht schon in einer Gesellschaft, in der „Influencer“ uns ferngesteuert von großen Unternehmen dahingehend beeinflussen, was wir essen, trinken, anziehen und ja, manchmal auch denken sollen? Im örtlichen Handel werden wir mit ausgesuchter Musik beschallt, die uns zum Kaufen animiert. Strategisch angebrachte und künstlich ins rechte Licht gerückte Waren sollen Reize wecken. Selbst die Farbe des Teppichbodens ist ausschlaggebend. Bewusste Verknappung sorgt dafür, dass ich ein Produkt unbedingt und um fast jeden Preis SOFORT haben möchte. Moderne Marktschreier im TV, auf Plakaten und im Netz, wo ich gläsern von allen Seiten mit auf mich zugeschnittenen Angeboten bombardiert werde. Kreuzfeuer… ohne Deckung und ohne Hoffnung darauf, dass den unsichtbaren Geldmagneten die Munition ausgehen könnte. Und preise ich nicht gerade ein Comic-Buch an, in dem das Konsumverhalten kritisiert wird? Wie gesagt… ein Kreislauf. TIANZHU ist überall.

Die Bundestagswahl und Covid treiben das Ganze dann politisch und gesellschaftlich auf die Spitze. „Wählt mich, ich mache es besser als alle anderen…“ ertönt es aus allen Lagern. Versprechen, die schwer bis überhaupt nicht zu halten sind. Vorgänger haben es bewiesen. „Wir kümmern uns um Euch…“ und „Ihr seid uns wichtig…“ hört man dieser Tage in Dauerschleife. Dass die Sätze mit „…bis wir Eure Stimme haben.“ weitergehen könnten, wird im Taumel der Selbstbeweihräucherung gerne mal runtergeschluckt oder geht im selbstherrlichen Jubel unter. Frei nach dem Motto Wer am lautesten schreit, hat recht. Da kommen dann noch selbsternannte Wissenschaftler ins Spiel, die angesehenen und vor allem ausgewiesenen Experten ihre Fachkenntnis absprechen. Und warum? Weil sie ihre Meinung herausschreien! So LAUT und so energisch, bis sie sie selber glauben. Glauben WOLLEN! Mitnichten ein neues Phänomen… was ein Blick in die Geschichtsbücher belegen sollte. Die Macht und auch die Wucht der Medien macht es nur noch deutlicher. Dabei ist nicht das Problem, dass heute JEDER eine Stimme hat. Keineswegs. Das Problem ist, dass jeder der LAUTESTE sein möchte.

KAUFEN! KAUFEN! KAUFEN!

Man könnte also sagen, dass „Shangri-La“ genau zur richtigen Zeit kommt. Brandaktuell und mit gesellschaftlichen Themen exakt am Puls der Zeit. Ein strategisches Glanzstück? Wohl eher nicht, auch wenn es schon fast bitterböse und sarkastische Züge hätte. Da der moralische Verfall aber nicht erst seit gestern zu beobachten ist, hat Autor und Zeichner Mathieu Bablet seine kreativen Werkzeuge dazu genutzt, um SICH Gehör zu verschaffen. Dabei spricht er anfänglich noch in leisen Tönen, hebt seine Stimme dann aber kontinuierlich an, bis er denen, die sich krampfhaft die Ohren zuhalten, mitten ins Gesicht brüllt. Ob er sie dennoch erreicht, bleibt fraglich. Den Hörenden jedoch, geht dieser Schrei durch Mark und Bein.

Auf der künstlerischen Seite gibt es genau das, was man sich unter opulenter Science-Fiction vorstellt. Unendliche Schwärze im tiefsten Weltall, ansprechendes Interieur mit detailliertem Technik-Schnickschnack auf der USS TIANZHU, riesige unterkühlte Hallen (die nicht so einen Anschein von Überfüllung erwecken, wir uns der Comic weismachen will) und schöne Ausblicke auf den Planeten, den wir im 21. Jahrhundert endgültig in die Tonne getreten haben. Dazu schöne Zwei- und Dreipunktperspektiven in trister, teils aufdringlicher Kolorierung. Das sieht alles (trotz gelegentlicher Farb-Monotonie) fantastisch und auch beeindruckend aus… wären da nicht die menschlichen Charaktere, bei denen es oft schwerfällt, diese auseinanderzuhalten. Das Rätselraten fängt sogar schon bei den Geschlechtern an. Die platten Visagen der Figuren erinnern mit ihren aufgerissenen und viel zu weit auseinanderstehenden Augen eher an abstrakte Kunst. Kunst von Malern, die ich – hätte ich das Geld, um deren Gemälde zu besitzen – am liebsten aus dem Rahmen reißen würde. Man kann jetzt zwar sagen, dass ein solcher Stil mal frisch und was Neues ist, was mich die Sache trotzdem nicht mit anderen (aufgerissenen) Augen sehen lässt. Ja, der Wiedererkennungswert von Bablets Figuren ist hoch… aber das war Picassos auch. Und dass dreieckige Köpfe unter Raumfahrerhelme passen würden, wage ich dezent zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz will ich mich auf den Gesamteindruck konzentrieren, den „Shangri-La“ bei mir hinterlassen hat… und der ist über fragwürdige Pfannkuchen-Gesichter mit Katzenaugen weit erhaben.

KAUFEN:

Das Leben im All in einer fernen Zukunft. Weit weg? Oh nein… viel, viel näher, als uns lieb sein kann. „Shangri-La“ nutzt das dystopische Sci-Fi-Setting, um nur allzu präsente Probleme anzusprechen. Rassismus, Kapitalismus, Unterdrückung… sucht Euch was aus. Nicht selten musste ich schwer schlucken und habe manches Szenario mit glasigen Augen hinter mir gelassen. Mit einem Aus den Augen, aus dem Sinn war es dann aber nicht getan, da sich speziell eine Stelle fest eingebrannt hat. Erschreckend, traurig und leider viel zu wahr…

Shangri-La

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