Text:   Zeichner: Jeff Lemire

Royal City

Royal City
Royal City
Wertung wird geladen
Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonApr 2025

Story

Ein unaufgeregter Pageturner mit ganz viel Seele. Jeff Lemire versteht sein geerdetes Handwerk wie kaum ein anderer Autor. Schlichtweg meisterhaft.

Zeichnung

So und nicht anders! Lemires fragile Zeichnungen sind wunderschön koloriert, was perfekt zur Atmosphäre passt.

Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung

Zusammenführung

Peter Pike (nein, kein Superheld) erleidet einen Schlaganfall (sehr ihr?). Er überlebt, fällt danach aber ins Koma. Zu diesem traurigen Anlass reist Patrick, der älteste Sohn von Peter und Patti Pike, nach längerer Zeit mal wieder in seine alte Heimatstadt Royal City. Ein recht ausgestorbenes Fleckchen Erde, wo so gut wie nie etwas Aufregendes geschieht. Maßgeblich am Leben gehalten durch die Industrie. Die Royal Manufacturing-Fabrik ist seit rund hundert Jahren das antreibende Herz der Kleinstadt, wo es schon obligatorisch ist, dass eine Anstellung regelrecht mit in die Wiege gelegt wird. So verdient dort auch Richie, Patricks jüngerer Bruder, seine Brötchen. Dumm nur, dass er maßgeblich durch seine Unzuverlässigkeit auffällt. Abgesehen von seinen privaten Alkohol-, Drogen- und ständigen Geldproblemen. Tara, die Schwester der beiden, arbeitet als Immobilienmaklerin. Aktuell quasi für die Gegenseite, da nach ihren Plänen die Fabrik dem Erdboden gleichgemacht und durch ein Luxusresort mit teuren Ferienwohnungen ersetzt werden soll. Der berufliche Todesstoß für dutzende Arbeiter, unter ihnen auch Taras eigener Ehemann. Patrick selbst ist das einzige der Pike-Kinder, das den Absprung aus Royal City geschafft hat. Als mäßig erfolgreicher Schriftsteller konnte er mit seinem Erstling immerhin ein passables Debüt vorlegen. Der Nachfolger blieb weit hinter den Erwartungen zurück und nun steckt Patrick mitten in einer Schreibblockade. Und obwohl ihm sein Agent im Nacken sitzt, lassen literarische Blitzideen weiterhin auf sich warten. Als reiche dies nicht, zweifelt Pat immer mehr an seinen Fähigkeiten. Er leidet unter einer Art Hochstapler-Syndrom, da er sein überaus positiv besprochenes Erstlingswerk „Royal City“ den Tagebuchaufzeichnungen seines jüngsten Bruders Tommy verdankt. Vielleicht wäre aus Tommy der bessere Schriftsteller geworden…, wenn nicht 1993 etwas vorgefallen wäre, was die Leben aller Familienmitglieder nachhaltig verändern sollte.

Loslassen

So viel zur Ausgangssituation. Viel mehr möchte ich zum Inhalt nicht verraten, denn die langsam erzählte Geschichte entfaltet sich mit ihren Konflikten am wirkungsvollsten, wenn man sie mit den Charakteren erlebt. Weit entfernt von strahlend und unfehlbar, tragen sie alle ihre Päckchen. Durchaus realistisch, gäbe es da nicht ein winziges Detail, welches die größtenteils entfremdete Familie zusammenhält. Obwohl bereits zum Ende des ersten Kapitels offenbart, soll dies nicht vorweggenommen werden, denn die zeichnerischen Andeutungen dieser Gemeinsamkeit sind schon clever.

Erzählt wird eine Tragödie, die eine scheinbar x-beliebige Familie seit Jahrzehnten überschattet. Mit den Auswirkungen werden wir schnell vertraut gemacht, die Hintergründe bekommen wir jedoch erst im Laufe der Geschichte offenbart. Zu diesem Zeitpunkt haben wir längst eine Beziehung zu den Protagonisten aufgebaut, wodurch das Erwartbare in seiner Konsequenz noch mal stärker zusetzt. Es bleibt ein Glanzstück der Erzählkunst, welches neben gesellschaftlich relevanten Themen und menschlichen Schicksalen sogar einen Hauch von Mystery versprüht, hauptsächlich jedoch die geerdete Tragik einer Familie widerspiegelt, die nicht loslassen will… oder kann.

Was man nun grob als „Familiendrama“ einordnen könnte, entpuppt sich letztendlich als viel, viel mehr. Verantwortlich ist nämlich der Kanadier Jeff Lemire, von dem nicht nur die Story stammt, sondern auch die Zeichnungen. Mit „Royal City“ geht er zurück zu seinen erzählerischen Wurzeln. Seine Karriere begann mit der „Essex County“-Trilogie, welche hierzulande in den drei Büchern „Geschichten vom Land“, „Geister Geschichten“ und „Die Krankenschwester“ bei EDITION 52 erschien. Benannt nach dem Ort im kanadischen Ontario, wo Lemire auf einer Farm aufwuchs. Es folgten zahlreiche Arbeiten für MARVEL, DC und gefeierte Genre-Beiträge wie „Sweet Tooth“ (PANINI), „Descender“, „Ascender“, „Gideon Falls“ oder die noch immer laufende „Black Hammer“-Saga“ (alle SPLITTER), mit denen Lemire die weiten Felder der Science-Fiction, der Fantasy und des Horrors auslotete. Mein persönlicher Favorit war bislang die bewegende Vater/Sohn-Graphic-Novel „Der Unterwasser-Schweißer“ (HINSTORFF). Bislang…, denn „Royal City“ hat mich vom Fleck weg begeistert. So sehr, dass ich mir unbedingt weitere von Lemires Werken in deutscher Übersetzung wünschen würde.

Jeff Lemire zieht hier alle künstlerischen Register… und einen als Leser damit unglaublich schnell in seine Kleinstadt-Welt. Das entschleunigte Tempo ist dabei eine Wohltat. Ich selbst merkte, wie gemäßigt ich mich durch diese dicke Gesamtausgabe arbeitete. Keinen Satz wollte ich überlesen, kein Panel mit einem flüchtigen Blick abstrafen. Auch wenn sich die Geister an Lemires Zeichenstil scheiden mögen, möchte ich das Erzählte nicht durch andere Bilder präsentiert bekommen. Die zarte, oft wässrige Aquarell-Kolorierung hat ihren ganz eigenen Charme und verpasst dieser komplex-dramatischen Handlung den perfekten, unaufdringlichen Anstrich.

Fazit:

Zwar gehöre ich zu der (offensichtlich immer geringer werdenden) Fraktion, die den Inhalt – sei es bei Comics oder Romanen – über die äußere Aufmachung eines Buches stellt, aber – VERDAMMT! – hat der SKINLESS CROW Verlag hier ein Hardcover rausgehauen. Schwer, absolut hochwertig im US-Format und dann noch rundum bedruckt. Soll heißen, dass farbige Buchschnitte nun auch ihren Comic-Einzug feiern. Das sieht fantastisch aus und hebt den edlen Wälzer nochmals einen Level höher. Inhaltlich ist „Royal City“ derweil über jeden Zweifel erhaben und in meinen Augen – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt – Jeff Lemires erzählerisches Meisterstück.

Royal City

Ähnliche Comics:

Deine Meinung zu »Royal City«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Alita:
Battle Angel

Der „Große Krieg“ ist seit 300 Jahren vorbei. Unter der gigantischen Himmelsstadt Zalem, der letzten ihrer Art, befindet sich Iron City. Hier sind alle Strukturen zusammengebrochen, was die Straßen - speziell nach Einbruch der Dunkelheit – zum gefährlichen Pflaster werden lässt. Im Jahr 2563 sind Cyborgs keine Seltenheit mehr und viele von ihnen verdienen sich ihr Geld als Kopfgeldjäger… sogenannte Hunter-Warrior. Titelbild: © 2019 Twentieth Century Fox

mehr erfahren