Text:   Zeichner: Dave McKean

Raptor

Raptor
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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonNov 2022

Story

Definitiv nicht für die breite Masse und schon gar nichts für leichte und schnelle Unterhaltung. „Raptor“ ist philosophisch, komplex und vielschichtig.

Zeichnung

Vielfältig, eigenwillig, konsequent… genial!

Poetisches Wandern zwischen zwei Welten

In der Schwebe

Im Wales des 19. Jahrhunderts betrauert Arthur den Tod seiner jungen Frau Amy. Bis zum Übergang hat er sie begleitet, dann schloss sich das undurchdringbare Tor und ließ ihn allein zurück. Allein mit seinen Gedanken, allein mit seiner unstillbaren Trauer. Als Schriftsteller ist er sich der Macht des geschriebenen Wortes bewusst… und nutzt diese, um seinen Verlust im Verfassen phantastischer Literatur zu kanalisieren. Die Nähe zum Tod hat ihn empfindsam gemacht. Für scheinbare Belanglosigkeiten, in denen er Bedeutsames sieht.

So schreibt er über den mysteriösen Reisenden Sokół, der auf seinem Weg durch ein tristes Land mit einem majestätischen Falken (im Polnischen = Sokół) verbunden ist. Der Reisende hält sich als Jäger über Wasser und erlegt mit seinem gefiederten Begleiter gigantische Ungeheuer. Ist die Arbeit getan, zieht er weiter… zumindest meistens. In einer Ruine stößt er auf Überbleibsel einer kleinen Bibliothek und beginnt in den Schriften zu stöbern. Scheinbare Belanglosigkeiten, die anderenorts mit viel Gewicht ins Papier geritzt worden sind.

Arthur, der neben seiner Apophänie (die Erfahrung, bestimmte Muster in alltäglichen Dingen zu erkennen; z.B. Tiere in Wolkenformationen, menschliches Gesicht auf der Mars-Oberfläche oder die Jungfrau Maria auf einer gerösteten Scheibe Toast) hauptsächlich die Nähe von Papier und Tinte schätzt, genießt lediglich die wöchentlichen Besuche seines guten Freundes Ed, bei denen beide bei einem guten Glas Wein in tiefgründige Plaudereien verfallen. Jedoch ist Arthur auch dem Okkulten nicht abgeneigt, nimmt sogar an einer Sitzung teil. Den anschließenden Gesprächen der Anwesenden lauscht er mit Neugier, kann er doch nicht abstreiten, eine Präsenz während des Rituals verspürt zu haben. Wenn eine überschaubare Anzahl von Menschen allein durch gesprochene Verse zu solch einer Manifestation im Stande sind, zu welcher Macht ist dann erst das geschriebene Wort fähig? Arthur tut das, was er am besten kann. Er greift zu Papier und Feder… und die Wand zwischen ihm und seinem gespiegelten Ich, Sokół, wird dünner und dünner.

Comic der 1.000 Möglichkeiten

Bricht man es über den Zaun, könnte man sagen, dass es in „Raptor“ um eine komplex-verschwurbelte Art der Trauerbewältigung geht. Das wäre zwar richtig, kratzte aber nur an der Oberfläche und täte dem Werk in seiner Gesamtheit unrecht. Es gibt nämlich noch so viel mehr darin zu entdecken. Ein auf den ersten Blick schwer in Einklang zu bringendes Geflecht, bestehend aus vielen Schichten. Das geschriebene Wort, meist lyrisch und bedeutungsschwanger, dann die Dialoge, ihrerseits wiederum vielschichtig und nur selten eindeutiger Natur. Hinzu kommt die künstlerische Umsetzung, die sich unterschiedlicher Stile bedient.

Arthurs Realität in Wales ist buntstiftartig und schraffiert. Die Charaktere wirken mit übergroßen, deformierten Köpfen kafkaesk. Die phantastische Welt Sokółs hingegen besteht aus Aquarellen und großflächigen Tusche-Schattierungen. Zwischen diese beiden Welten mischen sich wilde Malereien aus Öl, in denen es höchst abstrakt zugeht. Gerade in diesen Passagen kommt die breiteste Farbpalette zum Tragen. Ansonsten bewegen wir uns hauptsächlich zwischen verschiedenen Braun-Abstufungen.

Legt man all diese Schichten nun übereinander, bzw. reiht sie aneinander, kristallisiert sich eine nicht leicht zu fassende Geschichte heraus, die jede Leserin und jeder Leser anders auf- und wahrnehmen mag. War mir nach dem ersten Lesen noch nicht ganz klar, warum mich diese Graphic Novel auf verschiedenen Ebenen berührte, ist nach dem zweiten Durchgang klar, dass es die Symbiose aus Wort und Bild ist. Die Art, wie Menschen mit Emotionen umgehen, diese selbst wahrnehmen und vermitteln. Was Menschen sehen… und sehen wollen. Was Heilung verspricht und was wirklich heilt. Wo Trauer aufhört und Hoffnung anfängt. Wo Flucht verständlich, Konfrontation aber angebracht ist. Unaufhörliche Spiralen, Kreisläufe und gesellschaftliche wie politische Parallelen. All dies lässt sich herauslesen, wenn man zwischen die Zeilen blickt. Und dazu ist ausreichend Raum vorhanden.

Multitalent

Geschaffen wurde „Raptor“ vom britischen Allrounder Dave McKean. Nach seinem Studium am Berkshire College of Art And Design zog es ihn 1986 ins Comic-Business. Der heutige Grafikdesigner, Illustrator, Komponist, Fotograf und Filmemacher traf dort auf Neil Gaiman, dem wir die phantastischen Schätze „Sternwanderer“, „American Gods“, „Good Omens“, „Coraline“ und selbstverständlich „The Sandman“ verdanken. Bevor McKean die Cover-Gestaltung der Einzelhefte von Gaimans langjährigem Opus Magnum übernahm, feierte er mit der von Gaiman geschriebenen Graphic Novel „Violent Cases“ (ESCAPE BOOKS, später auch bei TITAN BOOKS und DARK HORSE wiederveröffentlicht) 1987 sein preisgekröntes Debüt. Auch nach der Arbeit an „The Sandman“ setzte sich der gemeinsame Weg fort. 1989 setzte McKean Grant Morrisons „Batman“-Meisterwerk „Arkham Asylum: Ein düsteres Haus in einer finsteren Welt“ (auf Deutsch bei PANINI) höchst anspruchsvoll für DC um. Sehr gefragt ist der Künstler ebenfalls, wenn es um die Gestaltung von Plattencovern geht. Zum Kundenkreis seiner fast zweihundert LP-Arbeiten zählen Alice Cooper, Paradise Lost, Tori Amos und die Counting Crows. „Raptor“ ist Dave McKeans erster Creator-owned-Comic, dem der CROSS CULT Verlag ein hochwertiges Hardcover im gebührenden Überformat spendiert hat.

Neben der regulären Ausgabe hat der Verlag noch eine weitere Version der Graphic Novel im Angebot. Für die „Limited Variant Edition“ muss man allerdings tiefer in die Tasche greifen.

Fazit:

Comic-Einsteiger werden sich ratlos im Kreis drehen, denn „Raptor“ ist auf allen Ebenen anspruchsvoll. Die Vermischung mehrerer Stile kann überfordern, jedoch belohnt die Geschichte nach ihrer Entwirrung mit unterschiedlichsten Erkenntnissen. „Raptor“ ist ein Werk, welches geradezu danach schreit, öfter in die Hand genommen zu werden. Und ich bin mir sicher, dass nach jedem neuen Lese-Durchgang weitere vergrabene Schichten an die Oberfläche gelangen.

Raptor

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