Das ewige Spielkind
Magische Orte…
…existieren. Man muss nur wissen, wo man nach ihnen suchen muss. Kein leichtes Unterfangen, gewiss, denn ihre Bewohner sind sehr darauf bedacht, diese Reiche der Wunder vor den Augen von Unbefugten geheim zu halten. In London ist ein solcher Ort der beliebte Park Kensington Gardens. Bei Tag ein gern genutztes Fleckchen Natur, wo Familien spazieren gehen, um dem Trott des Alltags zu entfliehen. Wo Kinder auf grünen Wiesen spielen, während Erwachsene die klare Luft atmen und für eine kurze Zeit eben jene vergessen können. Schließen sich nach Einbruch der Dunkelheit allerdings die Tore, erwacht die wahre Magie dieses idyllischen Örtchens. Dann regieren unter Ausschluss der menschlichen Bevölkerung Feen, sprechende Raben und Kobolde… und Peter Pan. Der Junge, der nicht erwachsen werden will.
Als die sechsjährige Maimie Mannering sich nach einem Ausflug mit ihrem Vater im Park verlaufen hat, scheint sie dort gefangen. Recht planlos irrt sie umher, bis sie auf ein paar ziemlich kratzbürstige Feen trifft. Vor deren Sticheleien rettet das Mädchen ein ihr unbekannter Junge. Der selbsternannte Abenteurer und Piratenjäger stellt sich Maimie stolz als Peter Pan vor, den seiner Ansicht nach wohl jeder einmal getroffen haben sollte. Maimies Bestreben, wieder in die Arme ihrer höchstwahrscheinlich zutiefst besorgten Eltern zurückzukehren, kann der gewitzte Bursche so gar nicht nachvollziehen. Vom Erwachsenwerden hält er nämlich nicht viel und unterbreitet dem Mädchen das – ebenfalls seiner Ansicht nach – verlockende Angebot, mit ihm in das sagenhafte Nimmerland zu reisen. Jenen Ort, wo Abenteuer und Spaß sich die Klinke in die Hand geben und niemals enden. Nicht zwingend in Maimies Interesse, hat sie ihr irdisches Leben doch eigentlich ganz gern. Nachdem also alle Überredungsversuche scheitern, willigt Peter ein, Maimie sicher nach Hause zu bringen. Keine Selbstverständlichkeit, denn der Park birgt in der Dunkelheit so manche Gefahr. So suchen die beiden, stets begleitet vom sprechenden Raben Salomon, die über Kensington Gardens herrschende Feenkönigin auf. Wenn jemand dafür sorgen kann, dass das Mädchen zurück in die Obhut ihrer Eltern findet, dann sie. Allerdings knüpft die Königin ihre Hilfe an eine Bedingung…
Nicht Vogel, nicht Mensch
Peter Pan, so wie er von James Matthew Barrie (1860 – 1937) einst erdacht wurde, ist irgendwas dazwischen. Vielen lediglich als Zeichentrick-Klassiker aus der DISNEY-Schmiede bekannt, unterscheidet sich der literarische Peter Pan aber doch noch etwas von seinem animierten Pendant von 1953. „Peter Pan in Kensington Gardens“ ist quasi der Vorläufer der beliebten und geläufigeren Geschichte, in der er mit Wendy Darling und ihren Brüdern ins Nimmerland reist, gemeinsam Abenteuer mit den „Verlorenen Jungs“ erlebt und sich mit dem diabolischen Kapitän Hook seinem Erzfeind stellt. Zuerst 1902 im Kurzgeschichtenband „The Little White Bird“ veröffentlicht, wurden die sechs Kapitel, in denen die Figur Peter Pan erstmals auftauchte, 1906 in leicht veränderter Form erneut herausgebracht. Diesmal unter dem Titel „Peter Pan in Kensington Gardens“ und viel deutlicher auf ein jüngeres Publikum zugeschnitten. Bis das bis heute in diversen Medien gern adaptierte Hauptwerk erschien, sollte es noch bis 1911 dauern. Das Buch „Peter and Wendy“ basierte wiederum auf dem Bühnenstück „Peter Pan, or The Boy Who Wouldn't Grow Up“ von J. M. Barrie.
Wo Steven Spielbergs Fantasy-Abenteuer „Hook“, 1991 hochkarätig mit Robin Williams, Julia Roberts, Dustin Hoffman und Bob Hoskins besetzt, die klassische Geschichte noch frei fortsetzte, fielen spätere filmische Adaptionen des gedruckten Stoffs stets beim Publikum durch. Zuletzt scheiterte erst DISNEYs „modern“ angepasste Realverfilmung „Peter Pan & Wendy“ gnadenlos. Und womit? Mit Recht, denn das verkochte Süppchen war mal wieder mit diversen Botschaften verwässert, um einem möglichst breit gefächerten Publikum vorzukauen, wie die Welt zu funktionieren hat. Nicht der erste und garantiert nicht der letzte Griff ins Klo. Peter Pans Ursprünge fielen bislang sogar komplett unter den Tisch, was nur schwer nachzuvollziehen ist. Gerade als Kinderfilm könnte das „kleine“ Abenteuer ganz wunderbar funktionieren.
Eigene Wege
Der spanische Comickünstler José Luis Munuera nimmt Barries Werk nun als Vorlage für eine vor allem optisch sehr ansprechende Graphic Novel. Dabei wagt er den Spagat, sowohl der ursprünglichen Geschichte weitestgehend treu zu bleiben, aber auch diejenigen ins Boot zu holen, die mit dem beliebten Zeichentrick-Klassiker groß wurden. Im Gegensatz zum Buch gibt es zahlreiche Verweise auf Charaktere, mit denen man bereits aus den bekannteren Werken vertraut ist. So schlägt seine Version von „Peter Pan in Kensington Gardens“ einen schön geschmeidigen Bogen zu „Peter and Wendy“ bzw. „Peter Pan“. Auch wenn mir der Bursche, der eine Sechsjährige zu manipulieren versucht, um sie fernab ihres Heims zu ehelichen, von Haus aus etwas suspekt ist, wurde ich sehr schnell in die Magie von Munueras Comic hineingezogen. Mein letzter Besuch im realen Kensington Gardens liegt zwar schon mehr als zwei Jahrzehnte zurück, doch einem wohligen Gefühl von Fernweh konnte ich mich nicht entziehen. Die fantastischen Zeichnungen tun das Übrige, um der charmanten Fantasy-Welt im nächtlichen London vollends zu verfallen. Besonders stechen die tollen Farben hervor. Eine finstere Nacht sah selten leuchtender und farbenfroher aus. Die in sich verlaufenden Blautöne sind einfach eine Wucht.
Fazit:
Die „kleine Schwester“ des großen Klassikers, nun erstmalig in wahnsinnig schönen Bildern für ein neues Publikum umgesetzt. José Luis Munuera erweist sich als Glücksgriff und ist mutig genug, den ursprünglichen Stoff mit einer erfrischenden Selbstverständlichkeit mit dem geläufigen „Peter Pan“ zu verschmelzen. Und siehe da, es funktioniert!

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