Text:   Zeichner: Antonia Kühn

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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonApr 2018

Story

Ein Familiendrama um Erinnerungen und Verlust, an dessen surrealen Momenten ein David Lynch seine helle Freude hätte. Ein bewegendes Debüt, das ebenso ein-drucksvoll, wie rätselhaft daherkommt.

Zeichnung

Abstrakte, aber stimmungsvolle Bleistift-Zeichnungen, die nahtlos zwischen Realität und Traum pendeln.

Vergangenheitsbewältigung

Bewegend

Der elfjährige Paul verlor seine Mutter bereits in jungen Jahren unter tragischen Umständen. Umstände, die für ihn damals noch nicht greifbar waren. Zusammen mit seiner älteren Schwester und seinem nun alleinerziehenden Vater lebt Paul in einer Plattenbausiedlung. Dieser versucht mühsam das Familiengefüge zusammenzuhalten, was sich durch seinen Schichtdienst und das rebellische Verhalten seiner Teenager-Tochter Laura aber schwerer gestaltet, als erhofft. Auch das Verhältnis von Paul und Laura ist mehr als zerrüttet. Ihr fragwürdiger Freundeskreis, der die Grenzen der Legalität nicht gerade selten überschreitet und durch Diebstähle und Sachbeschädigungen auffällt, veranlasst nicht nur ihren kleinen Bruder zu großer Sorge. Auch Pauls Vater fühlt sich zunehmend machtlos gegen die Freiheiten, die sich Laura rausnimmt und auch schon mal tagelang von der Bildfläche verschwindet und dem Elternhaus kommentarlos fernbleibt. Paul quälen währenddessen Erinnerungen… Erinnerungen, die er nicht mehr hat. Bruchstücke blitzen immer wieder in seinen verschwommenen Gedanken auf. Er kann nur Puzzleteile greifen… nur fehlt ihm ein klares Bild, um diese zusammenzusetzen. Die Einzelheiten über den schicksalhaften Verlust des geliebten Menschen bleiben unausgesprochen in der Familie. Jeder geht anders mit den Erlebnissen um und verarbeitet sie auf seine Weise. Doch wie soll man mit etwas umgehen, geschweige denn etwas verarbeiten, an das man keine Erinnerung mehr hat? Paul beginnt damit, den grauen Schleier zu lüften. Mit Hilfe von alten Fotos und Postkarten  will er die Vergangenheit offenlegen. Stück für Stück beginnt sich die so lang verschlossene Türe zur Wahrheit in Pauls vernebelten Gedanken zu öffnen… doch erst ein gemeinsames Erlebnis mit seiner Schwester, der der Junge heimlich folgt, stößt sie endgültig auf.

Doppeldeutig

Die Geschichte von „Lichtung“ wird vielschichtig erzählt und offenbart sich dem Leser nicht auf den ersten Blick. Clever verschachtelt Antonia Kühn die quälenden Versuche des Jungen, die Vergangenheit und den tragischen Verlust seiner Mutter offenzulegen. Zwischen Traumsequenzen und immer wiederkehrenden Symbolen ergibt sich nur langsam ein Gesamtbild, das auch nach dem Ende Freiraum für Interpretationen lässt. Einzelheiten, die für den jungen Paul nicht greifbar sind und ihm unbedeutend erscheinen, kristallisieren sich für den aufmerksamen Leser heraus und lassen die heile Fassade langsam bröckeln.

Ein bereits anfänglich gezeigtes Mobile, welches bei einem Umzug kaputtging und von der Mutter - mit dem Vergessen eines Elements - wieder zusammengesetzt wurde, ist nur ein Beispiel für Verlust in Kühns komplexer Erzählstruktur. So, wie die vom Mobile… vom Ganzen… getrennte Figur, die nach der Reparatur ihr Dasein in einem Wandschrank fristet, sind auch Pauls Erinnerungen an den dramatischen Tod seiner Mutter getrennt…  unsichtbar verstaut… in einem dunklen Schrank… tief in Pauls Gedächtnis.

Tiefgründig

Antonia Kühn lässt sich in ihrer Erzählung Zeit. Sie gibt ihren Charakteren Freiraum und lässt sie sich entfalten. Oft werden einfache Handlungen – ohne gesprochenen oder erklärenden Text - über mehrere Seiten dargestellt, was den Realismus in der Geschichte unterstreicht und dieser Authentizität verleiht. Die Träume und surrealen Abschweifungen werden geschickt und nahtlos eingesponnen, können anfänglich allerdings leicht überfordernd wirken.

Kühn, die in Kiel Kommunikationsdesign und an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg Freie Kunst studierte, illustrierte „Lichtung“ komplett in Bleistift-Zeichnungen. Ihre einfach gehaltenen Bilder überzeugen durch den harten schwarz-weiß-Kontrast, der die surrealen, metaphorischen Auswüchse durch schmelzende, fließende Grautöne großflächig und gekonnt unterstreicht. Die Charakter-Gestaltung der Hamburgerin hält sich nicht an anatomische Regeln und hebt in ihrer Abstraktion den phantastischen Aspekt der Erzählung dezent in den Fokus… allerdings ohne die geerdete Geschichte zu sehr in dieses Genre abgleiten zu lassen.

Die Autorin ließ sich von Fotoalben und Dokumenten, die ein verstorbener Großonkel hinterließ, zu dieser einfühlsamen und tragischen Geschichte inspirieren. „Lichtung“ stellt ihr erstes umfangreiches Comic-Projekt dar und wurde erst kürzlich vom Reprodukt Verlag als broschiertes Taschenbuch (16 x 21,5 cm) veröffentlicht.

Fazit:

In Antonia Kühns „Lichtung“ geht es um Familie, Verlust und verblasste Vergangenheit. Wer bereits einen geliebten Menschen verloren hat und sich die schönen Zeiten mit diesem gerne in Erinnerung ruft, wird sich in Paul hineinversetzen können, der diese vergrabenen Momente unbedingt ans Tageslicht befördern möchte… auch wenn sie schmerzhaft sind. Antonia Kühns Vergangenheitsbewältigung ist bewegend, doppeldeutig und tiefgründig.

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