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Marcel Scharrenbroich
7101

Comic-Couch Rezension vonJun 2023

Story

So manche Story hätte ich mir konsequenter gewünscht. Oft fehlt der letzte Kniff, der eine Geschichte länger in den Köpfen hätte verweilen lassen.

Zeichnung

Zwischen wilden Tuschelinien, finsteren Schraffuren und buntem Pop-Art-Look sollte für jeden etwas dabei sein.

True-Crime-Fiction

Hold Me, Thrill Me, WATCH Me, Kill Me

In Podcasts, Büchern, Serien, Filmen, Dokus oder auf Videoplattformen… True-Crime begegnet uns mittlerweile überall. Nicht immer 100%ig auf Fakten aufbauend und speziell in Staffel-umspannenden und abendfüllenden TV- und Kino-Formaten gerne mal dramaturgisch auf die Spitze getrieben, geben jüngste Erfolge wie „Dahmer - Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“, „The Good Nurse“, „She said“ oder „How to Sell Drugs Online (Fast)“ diesem Trend seine vielbeachtete Daseinsberechtigung. Kein neuer Trend wohlgemerkt, denn Filme wie „Bonnie und Clyde“ (1967), „Heavenly Creatures“ (1994), „Summer of Sam“ (1999), „Monster“ (2003), „The Black Dahlia“ (2006) und „Zodiac - Die Spur des Killers“ (2007), um nur ein paar Beispiele zu nennen, fanden schon immer ihr interessiertes Publikum, scheint das reale Böse doch mehr zu schockieren, als fiktive Maskenmörder, Kettensägen schwingende Inzucht-Hillbillys und Psychos mit Mutter-, Vater- oder einem Sonst-was-Komplex. Dass True-Crime gerade aktuell so viel Zuspruch erhält, dürfte von mehreren Faktoren beeinflusst sein. Die mediale Vielfalt ist dabei nicht unerheblich, locken doch Streamingdienste mit aufwendigen Dokumentationen („Making a Murderer“, „Don't fuck with Cats“, „Tiger King“), während im Free-TV Formate wie „Medical Detectives - Geheimnisse der Gerichtsmedizin“, „Ungeklärte Morde - Dem Täter auf der Spur“ und „Autopsie - Mysteriöse Todesfälle“ nicht nur gern gesehen werden, sondern dank entspannender Voiceovers paradoxerweise auch als Einschlafhilfe beliebt sind. True-Crime-Podcasts („Verbrechen“, „Verbrechen von nebenan: True Crime aus der Nachbarschaft“, „MORD AUF EX“, „Lubi - Ein Polizist stürzt ab“, „Mordlust“) wachsen gefühlt stündlich um neue Kanäle an, denn das Publikum hat Blut geleckt. Nicht verwunderlich, denn medial kommt kaum ein Tag ohne neue schockierende Vorfälle aus der Nachbarschaft aus. Ob die meist blutigen Fälle der Podcasts und Video-Formate da zur Beruhigung beitragen, sei mal dahingestellt, doch lassen sich daraus auch hilfreiche Verhaltenstipps entnehmen, sollte man selbst mal in eine Gefahrenlage geraten. Dazu muss es nicht gleich zum Äußersten kommen, denn der allseits beliebte „Enkeltrick“ kann schon genügend Schaden anrichten und ganze Existenzen zerstören. Dass der öffentlich-rechtliche Dauerbrenner „Aktenzeichen XY... Ungelöst“, immerhin seit 1967 konstant auf Sendung, trotz laienhaft nachgestellter Fälle nicht nur gefühlt immer brutalere, skrupellosere Verbrechen zeigt, ist leider nicht Veränderungen der Sehgewohnheiten geschuldet - was ebenfalls alarmieren sollte -, sondern zeigt, dass Verrohung mittlerweile zum Alltag gehört und die Folgen des eigenen Handels ebenso ungefürchtet bleiben, wie die Erwartung einer Strafe. Rosige Aussichten. Und eines ist sicher: Verbrechen, und die, die sie begehen, werden nicht aussterben.

Schwarzmalerei? Vielleicht, aber da wäre ich nur vorsichtig optimistisch. Wenn ein Internet-Trend oder ein Fußballspiel schon ausreichen, um randalierend alle Moralvorstellungen über Bord zu werfen, würde ich gesellschaftlich nicht mal einen kleinen Finger ins Feuer legen. Der vielbeschäftigte Autor Michael Mikolajczak pinselt in seinem neuen Werk ähnlich finster. Wobei… eigentlich lässt er pinseln. Acht unheilvolle Geschichten hat er in „Kult Geschichten 1 - Tick Tock“ zu Papier gebracht, die jeweils von einem anderen kreativen Kopf bildlich umgesetzt wurden. Das verspricht Vielfalt… und diverse Abgründe zwischen zeitgeschichtlicher Kriminalität und fiktivem Ideenreichtum.

Highlights…

So liefern sich in „Das Vermächtnis des Herrn Edison“ eben jener Thomas Alva Edison, der Erfinder der Glühbirne und des Phonographen, und George Westinghouse, ein Großindustrieller und Entwickler der Druckluftbremse für den Schienenverkehr, einen erbitterten Konkurrenzkampf. Beide entwickelten Stromgeneratoren. Und beide wussten, dass sich nur ein Modell durchsetzen würde. Edison setzte auf den Gleichstrom. Eine vermeintlich sichere Variante, während das Wechselstrom-Modell von Westinghouse tödliche Gefahren mit sich brachte. Das bewies Edison mit Tierversuchen und Wechselstrom. Welcher Amerikaner wollte schon Strom im Haushalt, der ihn jederzeit töten konnte? Allerdings eignete sich der Westinghouse-Wechselstrom doch hervorragend, wenn man ein Leben bewusst beenden wollte. Eingesetzt wurde diese Variante dann beim Elektrischen Stuhl. Eine vermeintlich „humanere“ Lösung als der Strang. Davon ging man wenigstens aus. Und Edison? Dessen Gleichstrom konnte seinen Siegeszug antreten, während der Tötungs-Strom Westinghouse eher zweifelhaften Ruhm einbrachte. Doch dies soll nicht nur die Geschichte zweier konkurrierender Erfinder sein, nein. Dies ist auch die Geschichte von Tillie Ziegler, die von ihrem alkoholsüchtigen Mann wie im Rausch mit einem Beil getötet wurde. William Kemmler wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Ihm wurde eine besondere „Ehre“ zuteil… er durfte als Erster auf dem Stuhl Platz nehmen.

Die erste Geschichte liefert gleich eine klare Sicht, wohin die Reise insgesamt geht. Konsequent und ziemlich trostlos geht es hier zu. Rache (aus dem Grab) ist in dieser Story das zentrale Thema. Umgesetzt wurde sie von Paolo Massagli, der auch Cover für Schallplatten und Bücher entwirft. Seine Bilder sind äußerst düster und Tusche-lastig. Das ist der Geschichte durchaus angemessen und bestimmte Elemente werden durch die Farben Rot, Blau und Gelb im ansonsten grau-schwarzen Einheitslook hervorgehoben.

Eine inhaltlich noch stärkere Geschichte ist „Hänsels Reise“. Erzählt wird sie von einem kleinen Jungen, der das Märchen der Brüder Grimm in seinem kindlichen Unwissen nutzt, um tatsächlich Erlebtes zu verarbeiten. Für Leserinnen und Leser ein Schlag in die Magengrube, geht es doch um sexualisierte Gewalt und Pädophilie. Intensiviert wird die eh schon schwer zu ertragende Kurzgeschichte durch die Bilder von Christian „Zano“ Zanotelli. Finstere Abbildungen der noch finstereren Realität des Jungen, gepaart mit farbintensiven Szenen, die glatt einem Märchen-Bilderbuch entnommen sein könnten. Der Kontrast zwischen diesem kindlichen Look und dem abstrakten Underground-Stil könnte kaum größer sein. Der womöglich beste Beitrag des gesamten Buches, mit Sicherheit sogar der Aufwühlendste.

Mit „S.C.U.M.“ haben wir einen weiteren True-Crime-Vertreter im Programm, denn die von Sascha Dörp gezeichnete Story verschlägt uns in die späten 60er, wo der wegweisende Pop-Art-Künstler Andy Warhol Opfer eines Attentats wurde. Verübt wurde dieses von der radikalen Frauenrechtlerin Valerie Solanas, die in ihrem Manifest die Auslöschung des männlichen Geschlechts propagierte. Gleich nach dem Attentat, welches Warhol schwer verletzt und durch mehrere Schüsse verwundet knapp überlebte, trifft sie auf die obdachlose Martha. Eine vom Leben gezeichneten Frau, die die Benachteiligung durch Männer tagtäglich am eigenen Leib zu spüren bekommt. Ob Solanas Hasspredigen, dass Männer endlich zur Rechenschaft gezogen werden müssen und eine rein weibliche Bevölkerung einem Paradies gleichkäme, bei Martha Wirkung zeigen?

„S.C.U.M.“ wurde vom späteren Herausgeber Maurice Girodias beabsichtigt als Akronym genutzt. Ihm zufolge steht es für „Society for Cutting Up Men“, wobei das eigentliche Wort „Scum“ übersetzt für „Abschaum“ steht. Der reale Attentat-Hintergrund wurde von Michael Mikolajczak gut genutzt, um Diskussionen über eine patriarchalische Gesellschaft und toxische Männlichkeit weiter aktuell zu halten. Einen großen Twist sollte man aber nicht erwarten. Dörps Zeichnungen sind an sich gelungen und stimmungsvoll, jedoch ist die Mimik der Charaktere recht steif und eindimensional. Mancher Gesichtsausdruck wird gleich mehrfach in Folge verwendet, was etwas befremdlich wirkt.

Die namensgebende Geschichte des Buches ist die für mich optisch Eindrucksvollste. „Tick Tock“ wurde von Jacek Piotrowski bebildert, der für Mikolajczak schon an „SUMI“ mitarbeitete, sowie der genialen E.T.A. Hoffmann-Adaption „Sandmann“ ihren einzigartigen Look verlieh. Die Geschichte handelt von Hannah Beswick, die nichts mehr fürchtete, als nach ihrem scheinbaren Ableben lebendig begraben zu werden. Als das Unvermeidliche dann eintritt, wird sie einbalsamiert, wie es testamentarisch vereinbart war. Verantwortlich dafür ist ihr Arzt und Vertrauter Charles. Dessen Trauer hält sich in Grenzen, sucht er doch nichts weniger als einen wertvollen Schatz, dessen Versteck die Verblichene sicher mit in Grab genommen hätte… wäre sie denn vergraben worden.

Piotrowski mischt in „Tick Tock“ gleich mehrere Zeichenstile. Von abstrakt, über detailliert bis hin zu äußerst wild ist alles dabei. Eine schwungvolle Strichführung, stets pendelnd zwischen modern und experimentell. Sicherlich nicht jedermanns Ding, doch mir persönlich gefällt diese abenteuerliche Mixtur.

…und weitere Geschichten

Vier sehr starke Beiträge und vier weitere, die von schwankender Qualität sind. Schlecht ist keine von ihnen, doch fehlt mancher Geschichte das gewisse Etwas. Mal fehlt mir der Spannungsbogen, wie zum Beispiel bei „Smiley“, dann ist mir das Erzählte einfach zu belanglos, wie in „Ter Teufel und ich“. Die offensichtliche Batman-Hommage „Der Fluch der Fledermaus“ ist ganz nett, allerdings gab es ähnliche Storys bereits. Die recht clean gezeichnete Kurzgeschichte „Königinnen“ hingegen kommt sehr verkopft daher und lässt mich noch immer rätseln.

Gelungen finde ich, dass einigen Geschichten noch Bonusmaterial angehängt ist. Meist Skizzen oder Konzeptzeichnungen. Kurze Biografien und Bilder der enthaltenen Künstler runden die „Kult Geschichten“ ab.

Fazit:

Ausgeschmückte True-Crime-Fälle und fiktive Abgründe gehen hier Hand in Hand. Der positive Gesamteindruck überwiegt, obwohl die inhaltliche Qualität der Geschichten variiert. Künstlerisch bekommt man eine Menge geboten, denn die acht Zeichner haben ihren jeweils eigenen Stil, den sie auch konsequent durchziehen. Nicht immer auf Top-Niveau, doch einige Artstyles stechen besonders hervor.

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