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Irrlicht

Irrlicht
Irrlicht
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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonJul 2023

Story

Ein durchaus forderndes Werk, in dem es selten Lichtblicke gibt. Es verbreitet eine verwirrende und zugleich beklemmende Schwere, die es aber zu entknoten lohnt.

Kein gewöhnlicher „Comic“

„Das Leben ist nicht gut zu denen, die so sind wie ich.“

Irrlicht ist ein Polizist… oder er war es. Wenigstens glaubt er das, so wie er viele Dinge in seinem zerrütteten Gedächtnis zu sortieren versucht. Vergangenheit und Gegenwart rotieren, lassen sich nicht greifen oder gar halten. Zwischen Angst, Wahn und gelegentlichen Momenten scheinbarer Klarheit irrt Irrlicht im Dunkeln umher, im dunklen Teil seiner Seele, in welchem jegliche Erinnerung wie von einem schwarzen Vorhang umhüllt wird. Er zerrt an diesem Vorhang, reißt wütend an dessen Oberfläche, bis sich Risse auftun. Nur einen Blick hindurch, ein kleines Spähen auf das, was sein verwirrter Geist vor ihm zu verheimlichen versucht. Anna. Immer wieder ist es Anna, die vor ihm auftaucht. Seine Frau, seine große Liebe. Doch etwas ist geschehen… etwas Schreckliches. Schmerzen… seelische und körperliche Schmerzen. Narben blieben zurück, unter deren Gewebe der Schlüssel zur Erkenntnis schlummert. Unberührt und wartend. Gefangen zwischen Verzweiflung und Einsamkeit kratzt Irrlicht an den Wunden. Kratzt sie auf, bis schließlich die Wahrheit zum Vorschein kommt.

Ein innerer Monolog

Der Inhalt klingt kryptisch, nicht wahr? Wie ein verschachtelter Psychotrip, bei dem Antworten nicht auf dem Silbertablett serviert werden. Genau so ist es auch, denn Michael Mikolajczak setzt vollstes Vertrauen in seine Leserinnen und Leser, die aktiv mitdenken müssen, um zwischen den Zeilen zu lesen. Die wirre Gedankenwelt des offensichtlich labilen Protagonisten gleicht dabei einem verzweigten Labyrinth, in dem man sich als Außenstehender schnell verlaufen kann. Wegweiser weisen in falsche Richtungen, Fragen nach dem rechten Weg führen nur weiter in die Irre. Die Gedanken der Hauptfigur rasen, drehen sich im Kreis, während sie fließen und letztendlich eingesickert aus teerigen Tümpeln nach Antworten schreien. Der Wahn ist schier spürbar. So stark und zerrend, wie man als Leser auf erlösende Lichtblicke hofft. Lichtblicke in einer pechschwarzen Seele, deren Rationalität komplett aus den Fugen geraten zu sein scheint.

Michael Mikolajczak hat sich für seine aktuellste Arbeit keinen Künstler an die Seite geholt, wie es bei seinen vorherigen Geschichten der Fall war. Für „Irrlicht“ werden ausschließlich Fotografien verwendet. Schwarz-weiße Bilder, die sich beinahe so schwer greifen lassen, wie die Geschichte selbst. Neonschilder, Fassaden, Graffitis oder extreme Nahaufnahmen, die mehrere Blicke benötigen, um sie zu entschlüsseln. Alles in einer namenlosen Stadt, scheinbar entvölkert und somit menschenleer. Durchaus treffend, denn Einsamkeit ist ein zentrales Thema. So wie Irrlicht gequält versucht, die Puzzleteile seiner zerstörten Psyche zu einem Bild zusammenzusetzen, ist es an uns, die visualisierten Bruchstücke mit Irrlichts wahnhaften Aussagen in Einklang zu bringen. Auf uns allein gestellt, können wir nur mit dem arbeiten, was uns vorliegt. Einziger Vorteil: unsere Psyche hat sich noch nicht komplett verabschiedet… obwohl meine Eigene während des Lesens gefährlich nahe in Richtung Kipppunkt eierte. Durch die Fotografien entsteht eine interessante Ebene, die man nur noch selten vorfindet. Damit also kein Comic im „klassischen“ Stil, aber immer noch ein Comic. Ein Foto-Comic im besten Sinne. Eine Art der grafisch unterstützten Erzählung, die schon fast in Vergessenheit geraten ist. Ein nostalgisches Relikt, modern-experimentell aufbereitet.

Das bei KULT COMICS erschienene Hardcover ist auf lediglich 150 Exemplare limitiert. Sollte das Interesse geweckt sein, sollte man also nicht zu lange zögern. „Irrlicht“ war zudem für den ICOM Independent Comic Preis nominiert. Gewinnen konnte die Geschichte zwar nicht, jedoch musste Michael Mikolajczak nicht mit leeren Händen nach Hause fahren. Er gewann mit der Geschichtensammlung „Kult Geschichten 1 - Tick Tock“, für die er mit mehreren Künstlern - darunter Jacek Piotrowski, Sascha Dörp und Holger Klein - zusammenarbeitete.

Fazit:

Auf der Suche nach einem Funken Hoffnung im heillosen Chaos. „Irrlicht“ ist ein tiefgründiges Werk, das sein Publikum beanspruchen wird. Trostlos und düster zieht es einen in einen tiefen Sog, wo Schmerz, Verlust und Wahn sich die Klinke in die Hand geben. Beileibe keine leichte Kost, doch eine durchaus gelungene Umsetzung, wenn man Mikolajczak Vertrauen schenkt und seiner Wortgewalt das Ruder überlässt.

Irrlicht

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