Graue Zellen auf Hochtouren
Kann man Menschen wirklich nur VOR den Kopf schauen?
Nein. Naja, eigentlich schon… es sei denn, man nutzt ein graphisches Medium und lässt Unmengen an Kreativität frei fließen, um dem wohl berühmtesten Detektiv der Literaturgeschichte bei seinen halsbrecherischen Gedankengängen auf Schritt und Tritt zu folgen. Wer schonmal eine Sherlock Holmes-Geschichte gelesen oder eine der zahlreichen Verfilmungen der letzten 116(!) Jahre geschaut hat, wird sich bestimmt gefragt haben, wie dieser listige Fuchs immer auf die richtige Fährte gelangt. Klar, er ist ein hervorragender Beobachter. Liest sein Gegenüber wie ein offenes Buch mit übergroßen Buchstaben. Holmes kombiniert wie kein Zweiter und scheint im Kopf immer schon zwei bis drei Schritte voraus zu sein. Wäre es da nicht mal spannend zu sehen, wie das Hirn des Meisterdetektivs so tickt? Wie die Puzzleteile in seinen chaotischen Synapsen rotieren, bevor sie sich zusammenfügen und ein klares Bild offenbaren? Ja, wäre es wohl… Und genau zu diesen Ehren kommen wir geneigten Leserinnen und Leser jetzt. Cyril Lieron und Benoit Dahan, die beiden Macher hinter „Im Kopf von Sherlock Holmes: Das Rätsel der skandalösen Eintrittskarte“, müssen sich wahrlich selbst die Gehirne verrenkt haben, um Holmes‘ Gedächtnispalast zu visualisieren und zeitgleich noch einen ausartenden Kriminalfall zu konstruieren, der Holmes und seinem Partner-in-Crime Watson einiges an Hirnschmalz abverlangt. Hereinspaziert in den „Kopf von Sherlock Holmes“.
Der rote Faden
High. Mal wieder. Dr. John Watson ist alles andere als begeistert, als sein Kompagnon Holmes sich erneut die freie Zeit damit vertreibt, die mit chemischen Substanzen angereicherte Seele bewusstseinserweitert baumeln zu lassen. Die Langeweile treibt’s rein. Der Detektiv mit dem ansonsten messerscharfen Verstand ist schlichtweg unterfordert. Da helfen auch die Stadt-Geschichten aus der Times wenig, um dem Zugedröhnten mehr als ein berauschtes Lächeln abzuringen. Abhilfe schafft der unerwartete Besuch der Polizei, die einen sichtlich verwirrten Mann im Schlepptau hat, als es in der Baker Street 221b klingelt. Dabei handelt es sich um Herbert Fowler. Einen Arzt, dessen Identität Watson sofort bestätigen kann. Dr. Fowler ist ordentlich neben der Spur und klagt über Gedächtnislücken. Nur mit einem Nachthemd und Pantoffeln bekleidet, von denen einer auch noch sichtlich aus Damen-Bestand stammt, und zusätzlich mit einem Schlüsselbeinbruch gesegnet, scheint der Kollege eine harte Nacht hinter sich zu haben. Holmes‘ Spürsinn ist sofort geweckt und vom benebelten Leerlauf schaltet er spontan in den höchsten Gang. Hinweise an Fowlers Kleidung erwecken den Anschein, dass der Doktor aus einer Kutsche aufs harte Kopfsteinpflaster fiel. Allerdings kann er sich nicht mehr daran erinnern, nach dem Zubettgehen das Haus verlassen zu haben. Lediglich daran, dass er am Vorabend ein Theater besucht hat. Im Heim des Geschädigten untersucht Holmes dessen Mantel und findet eine edel verzierte Karte mit chinesischen Schriftzeichen. Dabei handelt es sich um die Eintrittskarte zu einer Zauber-Show. Außerdem entdeckt Holmes ein undefinierbares Pulver an Fowlers Jackett. Dunkel erinnert sich der Arzt, dass er gegen Vorlage des golden veredelten Tickets einen Coupon erhielt. Diesen findet der Detektiv auch schnell, wird jedoch vor weitere Rätsel gestellt. Abgebildet sind ein Phönix und weitere unleserliche Schriftzeichen. Die angehäuften Indizien führen Holmes und Watson durch ganz London… und je weiter sie dem dünnen roten Faden folgen, desto mehr wird klar, dass Dr. Fowler nicht der Einzige ist, dem in jener Nacht Merkwürdiges wiederfuhr. Noch ist es nicht absehbar, doch die beiden Ermittler folgen einer Spur von nationaler Tragweite…
Das private Innenleben des Sherlock Holmes
Mittlerweile hat man von Sir Arthur Conan Doyles Spürnase schon ziemlich alles gesehen. Viele kennen die Romane, Geschichtensammlungen, klassischen Schwarz/Weiß-Filme oder aktuellere TV-Interpretationen wie „Elementary“ und die geniale BBC-Modernisierung „Sherlock“ mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman. Wir lernten in „Das Privatleben des Sherlock Holmes“ neue Blickwinkel kennen und durften Michael Caine und Ben Kingsley humorvoll in „Genie & Schnauze“ über die Schultern schauen. Dann gab es in den 80ern natürlich noch Barry Levinsons Abenteuer-Perle „Das Geheimnis des verborgenen Tempels“, die nach einem Drehbuch von „Kevin - Allein zu Haus“-Regisseur Chris Columbus entstand und Oscar-nominiert von George Lucas’ Effekt-Werkstatt Industrial Light and Magic veredelt wurde. Gandalf- und Magneto-Darsteller Sir Ian McKellen spielte in „Mr. Holmes“ den betagten Ex-Detektiv im Ruhestand, während die Blockbuster-Garanten Robert Downey Jr. und Jude Law für Guy Ritchie gleich zweimal Holmes und Watson einen actionreichen Buddy-Movie-Anstrich verpassten. Selbst DISNEY ließ es sich 1986 nicht nehmen, mit „Basil, der große Mäusedetektiv“ auf Doyles Spuren zu wandeln. Ich wage jedoch zu behaupten, dass es bislang nirgends derart detaillierte Einblicke in die deduktive Herangehensweise unseres Lieblings-Ermittlers gab, wie im vorliegenden Comic-Album… eigentlich schon eher eine ausgewachsene Graphic Novel, denn im sogenannten SPLITTER Double-Format stecken gleich beide Teile der damit abgeschlossenen Geschichte. Außerdem animiert der Band zum Mitmachen!
Auf einigen Seiten haben Cyril Lieron und Benoit Dahan kleine Hinweise eingearbeitet, bei denen man die Seite entweder gegen das Licht halten oder diese auch mal vorsichtig wölben muss, um das Lämpchen zum Leuchten zu bringen. Nette Gimmicks, von denen wir bereits beim Blick aufs Cover begrüßt werden. Hier haben wir es mit einem Die Cut-Cover zu tun, welche man häufig bei Jubiläumsausgaben von US-Comics vorfindet. Alte MARVEL-Hasen werden schon die eine oder andere Bekanntschaft damit gemacht haben. Bei diesem Verfahren wird ein Teil des Front-Motivs ausgestanzt und offenbart einen vorzeitigen Blick aufs Innenleben. Da geht es dann auch richtig ans Eingemachte, wovor ich als Comic-Liebhaber, der kreative und unverbrauchte Einfälle zu schätzen weiß, nur den Hut ziehen kann. Besser gesagt… die Deerstalker-Mütze. Es sind unglaublich viele Ideen eingeflossen, um die Denk-Arbeit von Sherlock Holmes zu visualisieren. So stöbert er in geistigen Aktenschränken, die sein gesamtes Wissen beinhalten, sortiert Indizien und wägt neue Erkenntnisse auf Umblätter-Diagrammen ab, bevor er durch ein augenförmiges Fenster blickt, um Fluchtrouten zu berechnen. Gerne spaziert Holmes auch über Straßenkarten von London und verfolgt flüchtige Verdächtige Schritt für Schritt. Es ist ein wahres Fest, so viel geballten Ideenreichtum auf 96 Seiten zu bestaunen.
Holmes selbst ähnelt dabei der Darstellung des britischen Schauspielers Peter Cushing, den man als Dr. Van Helsing in diversen „Dracula“-Verfilmungen, aus weiteren Produktionen der britischen HAMMER-Studios oder als Moff Tarkin aus „Krieg der Sterne“ kennt… ja, die gute alte Zeit, als „Star Wars“ noch der „Krieg der Sterne“ war. Der hagere Holmes ist dem 1994 verstorbenen Mimen quasi aus dem spitzkantigen Gesicht geschnitten. Stilistisch und vom Aufwand her eine glatte 1… beziehungsweise eine volle 10.
Fazit:
Die Story ist nicht perfekt, aber interessant genug, dass man an den Seiten klebt. Das große Ausmaß ist anfänglich nicht zu erkennen, wächst aber mit jedem Umblättern zu einem Komplott ungeahnter Größe heran. Die clevere Inszenierung und die aufwändig verschwurbelten Zeichnungen reißen derart mit, dass man sich die kaum noch als solche zu erkennenden Panels ganz genau anschaut. Das sollte man auch unbedingt tun, um keine Hinweise in den ausufernden Bilderfluten zu übersehen. Denn wie heißt es so schön: Nur nicht den (roten) Faden verlieren…
Benoit Dahan, Cyril Lieron, Benoit Dahan, Splitter
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