Verbrannte Erde
Aus dem Leben
Wer Comics abseits von Superhelden, prügelnden Galliern oder anthropomorphen Enten und Mäusen liebt und schätzt, wird mit Sicherheit schon mal über den Namen Craig Thompson gestolpert sein. Einer der bekanntesten – wenn nicht DER bekannteste – autobiographische Erzähler überhaupt. Sein Mammutwerk „Blankets“, welches der REPRODUKT Verlag erst im Herbst 2023 zum 20-jährigen in einer wunderschönen „Jubiläumsausgabe“ als Hardcover herausgebracht hat, räumte so ziemlich jeden Preis ab, den es in Comic-Gefilden zu finden gibt. Ein absolutes Meisterwerk, das zeigt, wieviel Kraft, Gefühl und Emotionen sich über gezeichnete Bilder transportieren lassen. Erzählt hat Thompson darin von seiner Kindheit in Wisconsin, wo er in einem streng fundamentalistisch-christlichen Elternhaus aufwuchs. Davon, wie er und sein Bruder Phil versuchten, dem Alltag zu entfliehen. Vom Dasein als Außenseiter und vom Finden und Verlieren der ersten Liebe. Von sexuellen Erfahrungen und dem großen Schritt, der Vergangenheit den Rücken zu kehren und sich ein eigenes Leben nach eigenen Wertevorstellungen aufzubauen. Ein Buch mit 664 Seiten, welches man – sofern man es schon besitzt – nicht mehr hergeben möchte. Auch namhafte Kollegen wie Art Spiegelman („Maus“), Neil Gaiman („Sandman“) oder Alan Moore („Watchmen“) warfen mit Lobeshymnen nur so um sich. Umso unverständlicher, dass ein sogleich wichtiges wie intimes Werk zum Stein des Anstoßes werden kann. In den prüden Vereinigten Staaten gab es seit 2006 immer wieder Forderungen, „Blankets“ wegen „sensibler Inhalte“ aus den öffentlichen Bibliotheken zu entfernen. Zeitweise wurde dies auch umgesetzt. Erst 2024 war „Blankets“ eines von 13 Büchern, die im Bundesstaat Utah aus Schulen verbannt wurden. Zensur kann ein Arschloch sein… aber Hauptsache Amerika wird bald wieder „great again“…
Ein ähnliches Schicksal erfuhr Thompsons nächstes Werk „Habibi“. Wieder umfangreich und ins Detail gehend, erzählte er darin in orientalischen Wüstenlandschaften die Liebesgeschichte der einstigen Sklavenkinder Dodola und Zam. Inspiriert von islamischer Mythologie, kam (trotz des märchenhaften Charakters der Geschichte) die Kritik genau aus dieser Richtung. Sexuelle Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen sind Bestandteil von „Habibi“, und gleich zu Beginn wird ein neunjähriges Mädchen gegen ihren Willen mit einem deutlich älteren Mann vermählt. Was anschließend passiert, kann man sich ausmalen. Um zu wissen, dass Frauenrechte in einigen Teilen der Welt mit Füßen getreten werden, brauchen wir uns nur Berichterstattungen aus Afghanistan anzuschauen, wo seit der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 die Uhren wieder in Richtung Steinzeit laufen. Das ist Fakt, und da kann man Craig Thompson für sein fiktives Werk noch so sehr stereotypische Darstellungen und Dämonisierung einer Religion vorwerfen. Mit strengem, gar fanatischem Glauben kennt er sich familiär bedingt nämlich bestens aus und stellt das Christentum keinesfalls auf einen höheren Sockel.
Die Kritik an „Habibi“ hatte Thompson trotz positivem Presse-Echos jedenfalls ordentlich zugesetzt, sodass er eigentlich Abstand vom Zeichnen nehmen wollte. Glücklicherweise hatte sich dies geändert, als er mit seinem nächsten Großprojekt zu seinen Wurzeln zurückkehrte.
Arbeit und Aufarbeit
Unkraut jäten, Steine aufsammeln, mit ätzendem Dünger hantieren. Die Arbeit auf dem Land geht an die Knochen und nicht selten an die Gesundheit. Craig Thompson kann ein Lied davon singen, verbrachten er und sein jüngerer Bruder Phil im ländlichen Wisconsin doch einen Großteil ihrer Jugend auf den riesigen Ginseng-Feldern der Umgebung. Damit konnten die Jungen sich ihr überschaubares Taschengeld aufbessern, welches sogleich wieder (sinnvoll!) investiert wurde. Die beiden rechneten nämlich nicht in Dollar, sondern in Comicheften. Waren die feinen Schmöker in den 80ern noch für einen schmalen Taler zu haben, sicherte die harte Arbeit ihnen während der Freizeit so einige prägende Lesestunden. Sicherlich eine schöne Erinnerung, die es an diese Zeit nicht ausschließlich gibt. Die Sommer waren nämlich lang und schweißtreibend.
Zählte das Städtchen Marathon auch gerade mal 1.200 Einwohner, war es doch überregional bestens bekannt. Die Gemeinde war der weltweit größte Produzent von amerikanischem Ginseng. Jener chinesischen Heilpflanze, der alle möglichen Eigenschaften nachgesagt werden. Als Verfeinerung von Nahrungsmitteln gerne genutzt, hat sich Ginseng aber auch in der Medizin unterschiedlich bewährt. Ginseng soll die Leistung und Konzentration steigern, wird als Potenzmittel eingesetzt, wirkt lindernd bei Infektionskrankheiten und soll sich zudem positiv auf Stress auswirken. Ein kleines Allround-Talent also. Kein Wunder, dass die weltweiten Händler Marathon stets zur Erntezeit überfluteten. Nicht wenige Farmer verdienten sich zur Ginseng-Hochzeit eine goldene Nase. Als jedoch die Preise plötzlich purzelten, waren ganze Existenzen bedroht. Hinzu kommt der Fakt, dass der Anbau von Ginseng regelrecht verbrannte Erde hinterlässt. Einmal angebaut, ist die Fläche für Ginseng anschließend nicht mehr zu gebrauchen. Nicht nur ein Kosten-, sondern auch ein Platz-Problem für die meisten Bauern. Mitte der 90er-Jahre war der Markt dann komplett am Boden.
Nun, mittlerweile in seinen Vierzigern, nutzt Craig Thompson die Einladung seiner Mutter, um mit reichlich Abstand in seine alte Heimat zurückzukehren. Vor dem Hintergrund des ersten „Internationalen Ginseng-Festivals“, von dem sogar überregional in der Presse berichtet wurde, rekapituliert er die Zeit, die er zehn Sommer lang, vierzig Stunden in der Woche auf den Feldern in Marathon verbracht hatte. Dabei setzt er sich erneut mit seiner nicht immer leichten Kindheit auseinander, stellt uns erstmals seine Schwester vor, erzählt von tragischen Einzelschicksalen und beleuchtet detailliert die steile Karriere der kleinen Ginsengwurzel und welcher Aufwand betrieben werden muss, damit die Knollen überhaupt einmal das Tageslicht sehen.
Für wen…
…ist „Ginsengwurzeln“ nun also zu empfehlen? Für Naturburschen mit besonderem Interesse an Ginseng? Liebhaber von Sachcomics? Oder eher für geneigte Leserinnen und Leser mit Hang zu aus- und abschweifenden Lebensgeschichten? Ein bisschen von allem wäre nicht schlecht, denn Thompson könnte mit seinen Mammut-Memoiren jede Schublade bis zum Rand befüllen. Ob dies nun immer spannend oder unterhaltsam ist, sollte jeder potentielle Käufer für sich entscheiden. Mitgerissen hat mich „Ginsengwurzeln“ nur bedingt, denn ich las lange… also sehr lange an seinem Buch. Und wenn ich sage sehr lange, meine ich so RICHTIG lange. Und das sage ich als Vielleser, der parallel sogar zwei Romane weggezogen hat. „Ginsengwurzeln“ ist extrem textlastig und holt stets weit aus. Der Spagat aus gut recherchiertem Sachcomic und intimer Autobiographie gelingt weitestgehend, erfordert aber viel Aufmerksamkeit und außerdem einiges an Sitzfleisch. Mit 456 randvollen Seiten schlägt Thompson nämlich wieder ordentlich über die Stränge.
Ob ich nun jede detaillierte Abschweifung gebraucht hätte, steht auf einem anderen Blatt, aber fasziniert bin ich davon, wie Craig Thompson jede einzelne Seite regelrecht komponiert hat. Blicke in die Vergangenheit – seien es historische Ereignisse oder Momente aus Thompsons Jugend auf den Feldern – werden nahtlos mit der Handlung in der Gegenwart vermengt, wodurch ein schöner Fluss entsteht. Obwohl Thompson seine Geschichte in zwölf Kapiteln erzählt (die ursprünglich in Einzelheften bei UNCIVILIZED BOOKS erschienen), leidet die Kontinuität nicht unter dem üblichen Druck, mit jeder Ausgabe ein prägnantes Highlight liefern zu müssen. Der Zeichenstil selbst ist ansprechend und solide, hebt sich aber vor allem durch kreative Ideen und künstlerische Kniffe von der Masse ab. Kaum ein Fleckchen bleibt ungenutzt. Thompson ergreift jede Chance, um noch ein kleines Detail unterzubringen… und sei es nur die knuffige Cartoon-Wurzel, die als Helferlein spielerisch Fakten über den Anbau von Ginseng erklärt. Farblich belässt es Thompson bei Grauabstufungen. Lediglich ein markantes orange-rot nutzt er in verschiedenen Stärken für die Kolorierung. Die Wahl kommt nicht von Ungefähr, spiegelt sie doch den Farbton der Steinfrüchte von Ginseng-Pflanzen wider.
Fazit:
Lässt man sich auf Craig Thompsons neuste Graphic Novel ein, in die er immerhin rund vier Jahre seines Lebens investierte, bekommt man eine Menge für sein Geld. Da es hier im Gegensatz zu „Blankets“ nicht ausschließlich autobiographisch zugeht und der erklärende Sachcomic-Charakter – zu einem obendrein noch sehr spezifischen Thema – vieles überstrahlt, sollte man vielleicht lieber beim Händler des Vertrauens einen Blick zur Probe riskieren. Selbst wenn ich selbst nicht durchgängig abgeholt wurde und Ginseng nicht zwingend zu den Dingen gehörte, die ich bislang im Leben vermisste, muss ich die akribische Recherche und das Herzblut schätzen, die Craig Thompson hier ohne den geringsten Zweifel investiert hat.
Craig Thompson, Craig Thompson, Reprodukt
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