Apokalypse Faun
Ein „grüner Daumen“ wäre leicht untertrieben!
Für die alleinerziehende Loretta Hayes ist im langweiligen Kaff Lowell, im US-Bundesstaat Maine, ein Tag wie der andere. Kassieren an der Supermarkt-Kasse, sich mit pöbelnder und mäkelnder Kundschaft herumschlagen und irgendwie versuchen, ihre beiden Kinder Meg und Josh zu anständigen Menschen zu erziehen. Eine Aufgabe, bei der ihr Mann sie im Stich ließ. Und da wären wir schon beim Thema, denn mitten in ihrer Schicht wird Loretta zur Highschool ihres pubertierenden Sohnes bestellt. Bei Josh wurde Marihuana gefunden, was den Schulleiter nicht so ganz begeistert. Loretta ebenfalls nicht, doch kann sie ihrem Spross keine großen Vorwürfe machen… immerhin stammt das Gras aus ihrem eigenen Vorrat. Apropos Gras: Joshs jüngere Schwester Meg klagte ihrer Mutter schon bei der hastigen Fahrt zur Schule, dass sie an einem juckenden Ausschlag am Arm leidet. Weitaus mehr als eine normale Hautreizung. Und ein erster Schritt in Richtung Ende, womit das einst langweilige Lowell seinen Ersteindruck in hohem Bogen über Bord wirft.
Beim gemeinsamen Abendessen wird Megs Ausschlag erneut Thema. Ebenfalls, dass sie auf dem Flur der Schule - während Loretta mit dem Rektor ein mittelgroßes Hühnchen rupfte - von einem alten Mann angesprochen wurde. Der Fremde wusste sogar von Megs „Problem“ und überreichte ihr etwas, das ihr Leiden lindern soll. Allerdings bleibt keine Zeit, um zu diskutieren, dass man von Fremden nichts annehmen soll, denn der kleinen Meg wächst tatsächlich ein Ast aus dem Rücken. Ein VERDAMMTER AST!!!
Loretta handelt sofort und verfrachtet die Kids ins Auto. Im Eiltempo soll es ins Krankenhaus gehen. Während der Fahrt rammt jedoch ein Van den Wagen mit Familie Hayes an Bord. Glatzköpfige Irre, bewaffnet mit Schwertern, Messern und Äxten, versuchen Meg aus dem demolierten Fahrzeug zu zerren. Loretta weiß nicht, wie ihr geschieht, doch bleihaltige Hilfe kommt von unerwarteter Seite. Es ist der Fremde Mann aus der Schule, der die Angreifer in die Flucht schlägt… zumindest vorerst. Für Loretta ist der Alte aber nicht so fremd, wie für ihre Kinder. Es ist Judd… der Großvater von Meg und Josh.
Für lange Erklärungen bleibt erstmal keine Zeit, denn Judd ist sich sicher, dass die Angreifer mit Verstärkung wieder auftauchen werden. Der entfremdete Schwiegervater offenbart zudem noch, was wirklich mit Lorettas Ehemann geschah und dass Megs „aufblühendes“ Problem in der Familie zu liegen scheint. Was als ungewollte Familienzusammenführung begann, soll ein Road Trip auf Leben und Tod werden.
Man erkennt die „Wurzeln“
Viel- und Alles-Schreiber Jeff Lemire ist hier am Werk und zeigt mit „Family Tree“ erneut seine Vielseitigkeit. Dass er es beherrscht, Familien-Dramen zu schreiben, hat der kanadische Erfolgsautor bereits mehrfach bewiesen. So steht auch hier eine scheinbar normale Familie aus der gesellschaftlichen Mitte im Vordergrund, die hier und da mit ihren Problemen zu kämpfen hat. Schnell wird aber klar, dass die familiären Zweige tiefer reichen. Schon zu Beginn wird uns aus der Erzähler-Perspektive der Anfang vom Ende verkündet. 1997 fing alles an, den Bach runterzugehen. Und wie so oft, kommt der Weltuntergang nicht mit einem großen Knall, sondern hält schleichend Einzug. Das Ganze wird von Lemire derart gut verpackt, dass das Unbehagen bereits ab Seite 1 beim Leser einsetzt.
„Family Tree“ ist auf drei Bände angelegt. „Setzling“, der erste Teil, beinhaltet die ersten vier US-Ausgaben, die der SPLITTER Verlag in einem Hardcover im Bookformat untergebracht hat. Dieses Format kennt man bereits von Titeln wie „Black Hammer“, „Black Magick“ oder „Something is killing the Children“. Ursprünglich bei IMAGE in Heft-Form erschienen, haben wir deutschen Leser damit das deutlich schönere und optisch ansprechendere Endprodukt. Auf Bonusmaterial - in Form von Skizzen oder einer Cover-Galerie - wurde verzichtet. Die 96 Seiten des ersten Bandes beschränken sich ausschließlich auf die Story.
Mit Ecken und Kanten
Am Zeichenstil von „Family Tree“ kann man sich reiben. Ihn kantig zu nennen wäre noch untertrieben und da hat es Phil Hester, der die Vorzeichnungen anfertigte, etwas zu gut gemeint. Was im Großen und Ganzen extrem stylish aussieht, offenbart gerade in Nahaufnahmen enorme Schwächen. So sehen die Gesichter der Figuren am besten aus, wenn sie mit möglichst wenig Details versehen sind. Hier kommt dann Inker Eric Gapstur ins Spiel, der die Tusche sehr großzügig einsetzte. Durch die großflächigen Schattierungen bekommen einige Panels einen regelrechten Mignola-Touch und erinnern an dessen „Hellboy“-Arbeiten. In Kombination mit den passend erdigen Farben von Ryan Cody wirkt es dann einigermaßen homogen… in einigen Momenten sogar herausragend.
Fazit:
Apokalyptischer Genre-Spuk mit Body-Horror-Elementen und tragischer Familien-Geschichte. Wo bei vielen Autoren wohl ein halbgares, übelriechendes Süppchen mit salzigem Nachgeschmack rausgekommen wäre, macht Jeff Lemire das, was er eigentlich immer macht: einen verdammt guten Job.
Jeff Lemire, Ryan Cody, Eric Gapstur, Phil Hester, Splitter
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