Text:   Zeichner: Emmanuel Lepage

Ein Frühling in Tschernobyl

Ein Frühling in Tschernobyl
Ein Frühling in Tschernobyl
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André C. Schmechta
9101

Comic-Couch Rezension vonJul 2019

Story

Die Mischung aus dokumentarischer Arbeit, der persönlichen Motivation sich einem enormen Risiko auszusetzen und den einnehmenden Schilderungen ist durchweg fesselnd.

Zeichnung

Es ist schon eine seltsam beklemmende Stimmung, die sich durch die schwarzweiß Zeichnungen einstellt. Nur gelegentlich färbt Lepage seine Bilder mit gedeckten Erdtönen. Als Lepage in die Wälder und hinaus die Natur zieht, offenbart sich ihm ein befremdliches Bild. Eine unerwartete „strahlende Explosion von Farben“. Und Lepage lässt dann passend zum Titel auch den Frühling im Comic aufblühen.

„Vom Leben überrumpelt“

Am 26. April 1986 ereignete sich ein folgenschwerer Störfall in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl, nahe der ukrainischen Stadt Prypjat. Zusammen mit weiteren Künstlern reist Emmanuel Lepage im Jahr 2009 in die Region, um sich persönlich ein Bild von den Zuständen vor Ort zu machen.

Gleich mit den ersten Seiten werden uns erschütternde Details nicht erspart. Lepage mischt die Erzählung über seine Anreise mit Zitaten aus dem Buch „Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft“ von Swetlana Alexijewitsch. So treffen uns unmittelbar persönliche Schicksale und wir erfahren von den gravierenden Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf den menschlichen Organismus. Es gibt zahlreiche Todesopfer. Radioaktivität ist auch Jahrzehnte nach der Katastrophe noch nachweisbar. Die Behörden haben lange beschwichtigt - auch in Europa, das ebenso von radioaktivem Niederschlag betroffen war.

„Hast Du an Deine Kinder gedacht?“

Lepage weiß um das Risiko, das er mit seiner Reise eingeht. Die Strahlenbelastung in einem Umkreis von 30 km um Tschernobyl ist immer noch enorm, ein normales Leben in betroffenen Gebieten nahezu unmöglich. Die Sorge der Familie ist groß, es gibt Diskussionen.

Zunächst droht das Projekt aber wegen ganz anderer Umstände zu scheitern. Ein Problem mit einem Nerv in seiner Hand führt dazu, dass Lepage nicht mehr zeichnen kann. Etwa eine Folge des psychischen Drucks, der auf dem Künstler lastet? Wie soll er nun vor Ort seine Eindrücke festhalten? Doch die Reise beginnt und die Künstler beziehen ein Haus in einem kleinen Dorf kurz vor der sogenannte verbotenen Zone.

„Das Monster“

Es ist schon eine seltsam beklemmende Stimmung, die sich durch die schwarzweiß Zeichnungen einstellt. Nur gelegentlich färbt Lepage seine Bilder mit gedeckten Erdtönen. Hier und da durchbricht ein Farbakzent die Tristesse - ein Warnschild, Hammer und Sichel - Symbole des Kommunismus.

Der Weg durch die Stadt Prypjat - mit einer Entfernung von etwa vier Kilometern die dem Reaktor nächstgelegene Siedlung - ist geprägt von Trostlosigkeit. Die Leere und Verlassenheit, der Blick über die Stadt, nicht mehr nutzbare Infrastruktur wirkt beinahe unwirklich. Es ist das Wissen um den dokumentarischen Charakter, das gebannt jedes Detail betrachten lässt.

Das Atomkraftwerk taucht Lepage in tiefes Dunkel - bedrohlich, warnend. Lepage bezeichnet es als „Das Monster“. Es ist ein Ort, der für Leid und Zerstörung von ungeheurem Ausmaß steht, ein Ort der ein Land und seine Bewohner verändert hat. Eindrucksvoll wirken die Impressionen -  von monumentaler Kraft.

„Tick...Tick...“

Bei ihrem Weg durch die kontaminierte Region ist Vorsicht geboten. Mundschutz, Plastiktüten um die Schuhe gewickelt - fraglich, ob der Schutz wirklich ausreicht. Ständiger akustischer Begleiter, das Dosimeter. Es ist der einzige Bezugspunkt zur gefährlichen, unsichtbaren Realität. Es misst die Strahlendosis und das unverkennbare Ticken durchbricht die Stille. Das Geräusch mahnt an und ist zugleich schriller Weckruf, wenn die Dosis kritische Grenzen erreicht und den sofortigen Aufbruch einfordert.

„Strahlende Schönheit“

Aber Lepage trifft keineswegs nur auf eine menschenleere Region. Er trifft auf Bewohner, die immer noch hier leben oder besser überleben. Familien, die sich arrangieren mussten, weil ihnen keine Wahl blieb, die sich nicht entwurzeln lassen wollten, weil es doch alles ist, was ihnen geblieben ist. Die Künstler treffen auf Gastfreundlichkeit, hören Geschichten von Krankheit und Hoffnung. Es wird gesungen und gelacht.

Und als Lepage in die Wälder und hinaus die Natur zieht, offenbart sich ihm ein befremdliches Bild. Eine unerwartete „strahlende Explosion von Farben“ . Und Lepage lässt dann passend zum Titel auch den Frühling im Comic aufblühen.

Leuchtendes Farbspiel durchbricht die Zeichnungen. Die Stimmung ändert sich, skurrile Normalität und Lebendigkeit hält Einzug. Beinahe möchte man sich der verklärt, naiven Romantik hingeben. Ein trügerischer Eindruck, der vergessen lässt, wo sich Lepage und seine Begleiter befinden und sie leichtsinnig durch die Gegend streifen lässt.

Mit der Zeit kehren auch die zeichnerischen Fähigkeiten zurück, die für einige Zeit verloren oder zumindest eingeschränkt waren. Am Ende wird Lepage resümieren: „Ich glaubte mich mit der Gefahr des Todes zu konfrontieren und es offenbart sich mir das Leben“.

Fazit:

„Frühling in Tschernobyl“ ist mehr als eine gezeichnete Reportage über die größte Atomkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Mischung aus dokumentarischer Arbeit, der persönlichen Motivation sich einem enormen Risiko auszusetzen und den einnehmenden Schilderungen ist durchweg fesselnd.

Emmanuel Lepage erzählt von seiner Reise in eine Vergangenheit aus Tod und Zerstörung, die auch heute noch nachwirkt. Und es ist eine Reise in das Leben nach und mit eben dieser Katastrophe. Lepage trifft auf das Unerwartete und wurde „Vom Leben überrumpelt“.

Ein Frühling in Tschernobyl

Emmanuel Lepage, Emmanuel Lepage, Splitter

Ein Frühling in Tschernobyl

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