Die Physiker

Die Physiker
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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonApr 2019

Story

Ein Klassiker. Punkt.

Zeichnung

Interessant und experimentell… auf Dauer aber etwas zu anstrengend und monoton. Dennoch eine mutige Stilisierung, die kreativ mit Perspektiven und Formen spielt.

Klassiker in abstraktem Gewand

Lang ist’s her…

Es muss 1993 oder 94 gewesen sein, als wir Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ im Deutschunterricht auf dem Lehrplan hatten. Allein der Titel, der staubtrockene und wissenschaftliche Langeweile in gedruckter Form vermuten ließ, sorgte für ein ablehnendes Raunen bei allen Schülern… so auch bei mir. Dass sich allerdings ein interessantes Stück Literaturgeschichte hinter dem sperrigen Titel verbergen sollte, merkte ich erst im Verlauf der Lektüre. Dürrenmatts „Komödie in zwei Akten“ entpuppte sich als kluges, groteskes Krimi-Drama, welches auch heute nichts an Faszination eingebüßt hat. Mein damaliger Deutschlehrer, dessen Unterricht mir gut in Erinnerung geblieben ist, hatte in jedem Fall ein gutes Händchen bei der Wahl der Lektüre, die ich nun – rund 25 Jahre später – auf neue Art und Weise entdecken durfte. Er selbst wurde nach seiner Lehrer-Karriere ein erfolgreicher Autor von Ruhrgebiets-Krimis und sei an dieser Stelle herzlich gegrüßt… falls er sich in diesen Worten erkennt.

Der Schweizer Schriftsteller Dürrenmatt verfasste das Bühnenstück bereits 1961 und schon im Folgejahr fand die Uraufführung in Zürich statt. Schnell avancierte „Die Physiker“ zum erfolgreichsten und meist gespielten Theaterstück im deutschsprachigen Raum und wurde in den folgenden Jahren bereits für mehrere Medien adaptiert. Zwischen diversen Buch-Publikationen entstand ein Hörspiel, eine TV-Aufzeichnung der Theater-Premiere, sowie eine Adaption als Fernsehspiel für den Süddeutschen Rundfunk und im Jahr 2000 sogar eine Oper… 2018 entdeckten „Die Physiker“ dann neue Gefilde und wurden von Benjamin Gottwald in Comic-Form verewigt.

Diagnose: Mehrfach-Mord

Inspektor Richard Voß bekommt einen Anruf und wird zu einem Tatort gerufen. Eigentlich nicht ungewöhnliches… jedoch kennt der Ermittler den Ort, an dem das Verbrechen stattfand, bereits von einem vorherigen Fall. Vor drei Monaten wurde eine Frau namens Dorothea Moser im Sanatorium „Les Cerisiers“ ermordet, die dort als Schwester tätig war. Erdrosselt. Mit einer Vorhangkordel. Dringend tatverdächtig war ein gewisser Hans Georg Beutler. Allerdings konnte man Beutler nicht belangen, da er Insasse in besagtem Sanatorium ist und sich für den Physiker Sir Isaac Newton hält. Auch in Voß‘ aktuellem Fall kam wieder eine Schwester der Einrichtung zu Tode. Irene Straub. Ernst Heinrich Ernesti soll sie mit der Schnur einer Stehlampe erwürgt haben. Ernesti ist ebenfalls Patient im „Les Cerisiers“ und hält sich ebenfalls für einen berühmten Physiker. Und zwar für niemand geringeren als Albert Einstein, der mit seiner Relativitätstheorie die Physik revolutionierte. Dem Inspektor wird der Zugang zum Mörder… pardon „Täter“ allerdings nicht gestattet, da dieser seine Nerven beruhigen müsse und nebenan Geige spielt. Die Aussage der Oberschwester, dass die Chefärztin Dr. Dr. Rer. Cur. Mathilde von Zahnd den angeblich erregten „Einstein“ auf dem Klavier begleitet und deswegen momentan nicht zu sprechen wäre, lässt Voß daran zweifeln WER denn nun im Sanatorium gegen den Strich gebürstet wurde… die mordlustigen Patienten, oder das zweifelhafte Personal, welches das muntere Meucheln anscheinend toleriert?

Voß beschließt entnervt, auf die unabkömmliche Frau von Zahnd zu warten und schon bald leistet ihm der Mörder… äääh, „Täter“ der ersten Krankenschwester Gesellschaft. Hans Georg Beutler… alias „Newton“. Im Verlaufe des anregenden Gesprächs offenbart Newton, dass ER in Wirklichkeit Einstein wäre, dies aber niemand erfahren dürfe. Beutler dreht den Spieß um und übernimmt kurzerhand das Verhör, was Voß in eine ihm ungewohnte und gleichsam unangenehme Situation drängt. Froh darüber, dass das fragwürdige Gespräch irgendwie überstanden zu haben, kommt Richard Voß endlich dazu, ein paar Worte mit der Chefärztin zu wechseln… was allerdings auch eher erschreckender Natur ist.

Der dritte Physiker im Bunde ist Johann Wilhelm Möbius. Ihm erscheint der König Salomo, der ihm als Ideengeber für seine wissenschaftlichen Errungenschaften dient… was Grund genug sein sollte, warum er „Gast“ in der zweifelhaften Einrichtung ist. Als seine geliebte Lina ihn mit den drei gemeinsamen Söhnen besucht, bricht es aus Möbius heraus. Als sie ihm offenbart, dass sie erneut geheiratet hat und mit ihrem Missionar - der direkt noch mit im Anhang ist – und den Kindern das Land verlässt, poltert er los und lässt dem Wahnsinn in ihm lautstark freien Lauf. Krankenschwester Monika Stettler durschaut jedoch Möbius‘ Schauspiel, dass sein Verhalten nur abschreckend auf seine Familie wirken und diese von ihm fernhalten soll. Sie erkennt, dass er nur den Verrückten spielt und gesteht ihm ihre Liebe. Schwester Monika hat bereits alles in die Wege geleitet, damit sie mit Möbius die Klinik verlassen kann, um gemeinsam glücklich zu werden. Dies liegt allerdings nicht im Sinne des Physikers und er ergreift drastische Maßnahmen… was einen erneuten Besuch des Inspektors zu Folge hat und die Liste der Mörder… ARRRGH!, „TÄTER“ weiter ergänzt.

Langsam kommt ans Tageslicht, dass die beiden anderen ermordeten Krankenschwestern ihren Patienten „Newton“ und „Einstein“ ähnliche Avancen gemacht haben. Nun scheint das Verwirrspiel komplett, doch es kommt noch dicker und die Zusammenhänge bieten nicht nur für Voß eine ungeahnte Überraschung…

Experimentelles Chaos

Begriffe wie Moral, Gerechtigkeit und Regeln werden in „Die Physiker“ vollkommen auf den Kopf gestellt. Sie werden zerpflückt, durcheinandergewürfelt und beliebig wieder zusammengesetzt, bis haarsträubende und gänzlich veränderte Konstellationen entstehen. Täter werden zu Opfern. Rechtschaffende in Frage gestellt. Gesunde zu Kranken… und umgekehrt. Dürrenmatts glänzendes Verwirrspiel, welches als augenscheinlich simple Kriminal-Geschichte beginnt und bereits nach wenigen Momenten Haken in alle Richtungen schlägt, sprengt im zweiten Akt alle gängigen Konventionen.

Die Graphic Novel-Adaption von Benjamin Gottwald, der während seiner Arbeit an „Die Physiker“ Illustration an der HAW Hamburg studierte, beschreitet ähnliche Wege. Seine Illustrationen bestehen aus wilden und perspektivisch verzerrten Form- und Farb-Explosionen, die sich in keinen festgelegten Rahmen zwängen lassen. Oftmals doppeldeutig und tiefgründig formen sich vermeintlich schlichte Skizzierungen zu aussägekräftigen Standbildern, die keinerlei Beschreibung und Erklärung bedürfen. Bizarr und abstrakt… jedoch oftmals auch anstrengend fürs überforderte Auge des Lesers und eine Spur zu „verrückt“.

Fazit:

Eine Graphic Novel, deren Illustrationen auf den ersten Blick schnell abschreckend wirken können, beim genaueren Betrachten aber - auf seltsame Art und Weise - zu Dürrenmatts Erzählung passen. Das Werk an sich ist ein Klassiker und sollte unbedingt gelesen werden. In dem hochwertigen Hardcover der Büchergilde Gutenberg ist neben der experimentellen Adaption von Benjamin Gottwald auch der Original-Text in der Neufassung von 1980 enthalten, weswegen man mit dieser Ausgabe generell nichts falsch machen kann.

Die Physiker

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