Operation gelungen… Leser verstört
„Ein gesunder Körper ist ein Gästezimmer für die Seele…“
Der kleine Toby Miller ist schwer krank. Stark deformiert ist der Junge auf den Rollstuhl angewiesen. An ein normales Leben ist aufgrund seiner missgebildeten Gliedmaßen nicht zu denken. Ein Zustand, den sein fürsorglicher und wohlhabender Vater nur zu gerne ändern würde… leider bissen sich die bislang besten Ärzte und Experten, die man für Geld kaufen kann, an Tobys Fall die Zähne aus. EINE Möglichkeit besteht jedoch noch…
Eine russische Klinik hat den Ruf, selbst die ausweglosesten Krankheitsbilder heilen zu können. Recherchen im Internet ergeben, dass dort sogar AIDS geheilt wurde und Unfallopfern abgetrennte Glieder auf wundersame Weise nachwuchsen. Kann so etwas wirklich sein? Tobys Vater klammert sich an jeden noch so dünnen Strohhalm und willigt trotz einiger Bedenken in die Behandlung seines Sohnes ein. Etwas stutzig macht ihn die übertriebene Geheimhaltung der Klinik, die angeblich zu einem gigantischen Pharmazieunternehmen gehört und durch verbreitete Gerüchte schon fast ein Fall für die X-Akten wäre. Haufenweise müssen Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet werden… auch von der hübschen Krankenschwester Theresa Banks. Sie soll Toby auf seiner Reise in die abgelegene russische Wunder-Klinik begleiten. Sie und der sympathische Junge sind auf einer Wellenlänge und verstehen sich von Anfang an prächtig. Hoffnungsvoll übergibt der Vater seinen Sohn in Theresas Obhut und die Reise vom sonnendurchfluteten Los Angeles ins ferne und frostige Transnistrien kann beginnen.
„…ein kranker ist ein Gefängnis.“
Kaum zu nächtlicher Stunde auf einer russischen Militärbasis gelandet, geht es für Theresa und Toby nahtlos weiter zur mysteriösen Klinik. Auf ihrem Weg passieren sie eine Unfallstelle, was ihren Fahrer jedoch herzlich wenig kümmert. Theresa ist beunruhigt, vermutet sie doch Verletzte – oder schlimmeres – in dem brennenden Wrack am Straßenrand. Sie soll recht behalten, denn zeitgleich mit ihrer Ankunft am Zielort taucht auch ein blutüberströmter Fremder – ein französischer Tourist – vor dem Krankenhaus auf, der vom Sicherheitspersonal aber forsch abgewiesen wird. Erst Doktor Vitali Sova – der Leiter der Einrichtung – kann die aufgeheizte Situation entspannen. Der Doktor versichert, dass der Verletzte gut versorgt wird und beginnt Theresa und Toby durch die Räumlichkeiten zu führen. Auf dem Krankenzimmer angekommen, schlummert der sichtlich erschöpfte Junge direkt ein, schließlich hat er einen großen Tag vor sich… den Tag seiner hoffnungsvollen Behandlung. Theresa wird von Sova noch instruiert, ihr Zimmer nicht zu verlassen, bevor er sich verabschiedet. Sie ist jedoch neugierig, was es mit den geheimnisvollen Mauern der Klinik auf sich hat.
Auf ihrem Ausflug durch die düsteren Gänge macht sie eine schockierende Bekanntschaft. Eine grotesk mutierte Figur kreuzt ihren Weg… ein… ein Patient? Vom Kopf bis zur Körpermitte anatomisch normal, verläuft die untere Hälfte in eine Art gläserne Kuppel, in der die Organe in einer grünlich schimmernden Flüssigkeit freiliegend zu schwimmen scheinen. Auf einer mechanischen Vorrichtung bewegt sich die Person… die Kreatur… die… die… was zur Hölle das auch immer sein mag… sich fort. Ein bizarrer Anblick für die verstörte junge Frau. Als sie sich vorsichtig weiter durch die Gänge tastet, trifft sie in einem helleren und freundlicheren Abschnitt erneut auf den verwundeten Franzosen von der Unfallstelle. Bei einem Gespräch vor der Tür offeriert er Theresa, dass er den Crash nur vorgetäuscht hätte, um sich Zugang zum Krankenhaus zu verschaffen. Ferner, dass sein Sohn im Keller der Einrichtung gefangen gehalten wird! Auch noch, dass er zu allem bereit ist… bereit, um die Hexe, die diesen grauenhaften Ort leitet, zu töten. Die Hexe, die hinter allem steckt… DIE KRANKENSCHWESTER.
Dr. Cronenberg, bitte in den OP
„Abgefahren!“ war das erste Wort, was mir allein beim Blick auf das Cover entfleuchte. Auch der Inhalt hält, was das Äußere verspricht. Grotesk und bizarr sind – im positiven Sinne – noch die harmlosesten Bezeichnungen für die markanten und eindringlichen Bilder, die sich unweigerlich ins Auge und in den Kopf des Lesers brennen. Nicht nur die mutierten Patienten der ominösen Klinik bestechen durch ihre außergewöhnliche Erscheinung, auch die „normalen“ Charaktere unterscheiden sich deutlich von anderen Genre-Vertretern. Weder realistisch, noch cartoonig überzeichnet, fällt es schwer, den Stil auch nur ansatzweise zuzuordnen. Kantige Köpfe, Giraffen-Hälse und melonenartige Oberweiten, die eine Pamela Anderson der 90er in Schnappatmung versetzen würden… all das wirkt – so unglaublich es sich anhören mag – als homogenes Ganzes und macht den eigenwilligen Stil des verantwortlichen Künstlers unverkennbar und auch einzigartig.
Hinter dem speziellen Titel „Die Krankenschwester“ steckt der 1971 geborene, uruguayische Autor und Zeichner Zalo „Zalozabal“ Mendizabal. Beeinflusst von den Arbeiten des französischen Comic-Genies Moebius (bürgerlich Jean Giraud), welcher den frankobelgischen Comic maßgeblich mitprägte und auch in der Filmindustrie arbeitete (er entwarf unter anderem die Raumanzüge für Ridley Scotts „Alien“ und schrieb die Storyboards für „Abyss“, „Tron“ und die Zeichentrick-Perle „Herrscher der Zeit“) brachte Zalozabal sich das Zeichnen selber bei. Seine Geschichten wurden in Magazinen wie „Heavy Metal“ abgedruckt und er schuf zudem die Sci-Fi-Reihen „Genetic Grunge“ und „Slum Nation“. „Genetic Grunge“ erschien 2003 auch in Deutschland beim Carlsen Verlag.
„Die Krankenschwester“ ist im Erko Verlag erschienen und überzeugt durch hochwertige Verarbeitung. Ebenso sind Druck und Papierqualität des Hardcover-Albums hervorragend. Ein Verlag, den man definitiv im Auge behalten sollte, da sich dort weitere vielversprechende Titel im Programm finden… einige werden hier demnächst besprochen, versprochen.
Fazit:
Ein lesenswerter Ausnahme-Comic, weitab vom Mainstream. Als hätte David Cronenberg – der filmische Meister des Body-Horror – in einem Anflug von Größenwahn zum Pinsel gegriffen und wäre seitenweise kreativ Amok gelaufen. Eine herrlich – im wahrsten Sinne des Wortes – KRANKE und in sich abgeschlossene Geschichte.
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