Text:   Zeichner: Zerocalcare

Die Krake im Nacken

  • Avant
  • Erschienen: November 2024
  • 0
Die Krake im Nacken
Die Krake im Nacken
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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonNov 2025

Story

Wilde Geschichten vom Schulhof der frühen 90er. Was dort beginnt, soll noch lange nachwirken… vor allem für den Künstler selbst.

Zeichnung

Modern, gerne mal überdreht, aber verdammt gut!

Aufwachsen zwischen Mutproben und Schuldgefühlen

Wetten, dass..?

Willkommen zurück in der Schulzeit. Hör ich da etwa Stöhnen??? Verwunderlich ist es nicht, denn wer erinnert sich schon gern ans Bankdrücken, während man ankämpfend gegen die Morgenmüdigkeit dem sonoren Klang des (zumindest körperlich) anwesenden Lehrkörpers lauschte. Heute möchte ich allerdings auch kein Schüler mehr sein… und schon gar kein Lehrer. 1990, wo das Tragen von Kettenhemden und schusssicheren Westen noch nicht zur Standard-Nahkampfausrüstung für jeden gehörte, der das (Schul-)Tor zur Hölle durchschritt, drückten auch der junge Zerocalcare (Baujahr 1983) und Kumpel Secco die Schulbank. Autobiographisch erzählt der heutige Künstler, der bürgerlich Michele Rech heißt, wie es im ausgehenden Jahrtausend auf und fernab des Schulhofs so zuging.

Ganz wichtig war es, zu wetten. Auf wen? Egal. Um was? Ebenfalls nebensächlich… notfalls um die Ehre. Mit „Ich wette, du traust dich nicht“ fingen die größten Scheißhaus-Ideen an, urplötzlich Gestalt anzunehmen. Über die Folgen dachte man nur selten nach, es zählte der Moment. Und da war Handeln angesagt. So auch, als Zero und Secco sich unerlaubt vom Schulgelände entfernen, weil Zero unbedingt beweisen will, dass er eben kein Schisser ist. Zur Mutprobe geht es in den anliegenden Wald, über den man sich allerlei finsteren Scheiß erzählt. Begleitet werden sie von Sarah… was Secco eigentlich nicht so in den Kram passt. Sollten Mädchen nicht eher Mädchen-Sachen machen? Was auch immer sich Jungs im Grundschulalter darunter vorstellen. Tatsächlich gerät das aber schnell zur Nebensache, als das Trio im Gras einen Schädel findet. Einen menschlichen Schädel, wohlgemerkt. So erschreckend dies auch ist, so eine geile Schulhof-Story gibt die Nummer auch ab. Schnell dichtet man noch hinzu, dass es ein hungriger Wolf sein muss, der da im Wäldchen sein Unwesen treibt. Zu dumm, dass eine Lehrerin mitbekommt, wie sich die wilde Geschichte vor ihren Augen zum Lauffeuer entwickelt.

Und ab diesem Moment beginnt das Unheil: Zero, der sich für äußerst clever hält, indem er annimmt, dass Mädchen einer Bestrafung entgehen würden, weil sie eben Mädchen sind, gibt auf die Frage, ob er sich unerlaubt vom Schuldgelände entfernt hat und im Wald war, an, dass er die Schädel/Wolf-Story von Sarah erzählt bekommen hat. Entgegen seiner Annahme, wird Sarah sehr wohl zum Rektor geschleift und muss ihm Rede und Antwort stehen. Von einem Schädel will der mal so gar nichts wissen, dafür aber Sarahs Eltern vorladen. Toll gemacht, Zero. Ganz toll. Sarah ahnt jedoch nicht, dass sie ihm den Mist zu verdanken hat. „Clever“, wie der Bursche ist, schiebt er den schwarzen Peter der verhassten, zickigen Mitschülerin Giulia zu. Sie hat Sarah verpfiffen, eindeutig! Was Zero damit lostritt, kann er zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht abschätzen… doch die Schuldgefühle werden ihn viele Jahre begleiten.

Kennste einen, kennste alle

Wer schon einmal einen Comic von Zerocalcare gelesen hat, dürfte wissen, was er zu erwarten hat. Und genau das bekommt man: selbstreflektierende Ehrlichkeit und keine Scheu, sich selber mal in die Pfanne zu hauen. Ein weinendes Nostalgie-Auge, das andere aber mit Tränen der Heiterkeit gefüllt, da der bissige Humor in den meisten Fällen genau ins Ziel trifft. Lokalkolorit und Popkultur-Reminiszenzen en masse. Diese sind freilich nach italienischen Maßstäben zu sehen, was deutsche Leser das eine oder andere Mal am Gag vorbeigaloppieren lässt. Erfreulicherweise hat die Übersetzerin Myriam Alfano aber ein sehr hilfreiches Glossar angehängt, nach dem keine Fragen mehr offenbleiben dürften. Das bremst zwar ein bisschen den eigentlichen Moment der Situationskomik aus, aber lieber einmal nach hinten blättern als fragend aus der Wäsche zu gucken. Ein Großteil der Retro-Verweise dürfte aber auch hierzulande bekannt sein… falls man Anfang der 90er schon popkulturell unterwegs war.

Diese Gemeinsamkeiten sind nicht die einzigen, die uns mit den italienischen (indirekten) Nachbarn verbinden. Generell scheinen wir recht ähnlich zu ticken, wenn es zum Beispiel um den Blick auf die Schulzeit geht. Wie man sich seinen Status erkämpft/erhält, wie schnell man sich selbst ins Aus schießen kann oder von anderen dorthin geschossen wird, welche Dynamik Gerüchte annehmen können und wie schnell aus kindlicher Unbeschwertheit eine „Krake im Nacken“ werden kann, die hier sinnbildlich für arge Schuldgefühle steht, die einem wie eine Last auf den Schultern liegt und mit ihren Tentakeln immer mehr die Luft abschnürt. Vieles davon dürfte ein jeder von uns kennen. Sei es aus eigenen, manchmal schmerzvollen Erfahrungen, oder von jemandem im engeren Kreis. Ziemlich universell und von Zerocalcare nahezu perfekt wiedergegeben.

Davor und danach

„Un polpo alla gola“, wie „Die Krake im Nacken“ im italienischen Original heißt, erschien bereits 2012 als mittlerer Teil einer autobiografischen Trilogie. Nicht direkt als Trilogie benannt, aber chronologisch gelesen Zerocalcares Lebensweg folgend. 2014 folgte „Dimentica il mio nome“, welches der AVANT-VERLAG bereits 2022 unter dem Titel „Vergiss meinen Namen“ veröffentlichte. Erstaunlicherweise ist der erste autobiographisch-geprägte Comic „La profezia dell'armadillo“, welcher 2018 sogar verfilmt wurde, bislang nicht in deutscher Sprache erschienen. Erstmalig publiziert 2011 (und im Folgejahr erneut veröffentlicht), würde ich die tragikomische Geschichte über Zerocalcares erste Liebe und dem damit verbundenen Drama liebend gerne meinem Comic-Regal hinzufügen. Mitreißend und berührend erzählen kann Zerocalcare nämlich. Geschichten mitten aus dem Leben, meist sehr persönlich und intim, aber stets angereichert mit überbordendem Comic-Wahnsinn und schrägen Figuren.

Fazit:

Wenn Autobiographisches krachend auf Fiktionales trifft, stehen die Chancen gut, dass Zerocalcare seine Finger im Spiel hat. Gnadenlose Ehrlichkeit, haufenweise Popkultur-Referenzen und ein selbstreflektierender Künstler, der sich nicht zu Schade ist, eigene Unzulänglichkeiten offen einzugestehen, sind die typischen Merkmale eines Zero-Comics, mit denen man dem Italiener fast schon ein eigenes Genre zuschreiben möchte.

Die Krake im Nacken

Zerocalcare, Zerocalcare, Avant

Die Krake im Nacken

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