Text:   Zeichner: Tina Brenneisen

Das Licht, das Schatten leert

Das Licht, das Schatten leert
Das Licht, das Schatten leert
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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonNov 2019

Story

Ein beeindruckend mutiges und offenes Werk, welches sich in allen Einzelheiten einem Tabuthema widmet. Bewegend, Mut machend und ganz, ganz wichtig.

Zeichnung

Nicht die schönsten Illustrationen, dafür aber wohl die ehrlichsten und emotionalsten, weswegen dies für die verdiente Höchstwertung nicht negativ ins Gewicht fällt.

1 + 1 + 1 = 2

Mir… fehlen die Worte

Ich tue mich ehrlich gesagt gerade etwas schwer, einen richtigen Einstieg zu finden. Noch ehrlicher gesagt, fehlt mir der bewundernswerte Mut, mit dem Tina Brenneisen in ihrer bewegenden, autobiografischen Erzählung „Das Licht, das Schatten leert“ offen über ein Tabuthema spricht, da ich ihre eindringliche Geschichte wohl nicht mal im Ansatz gebührend wiedergeben kann. Es geht um das Thema Totgeburt. Ein Thema, mit dem ich mich – zugegeben – bisher wenig beschäftigt hatte, welches mich aber dennoch mitten ins Herz traf… Bereits nach wenigen Seiten hatte ich einen dicken Kloß im Hals. Und nachdem ich die letzten Seiten gelesen hatte, legte ich das Buch vorsichtig zur Seite. Behutsam, so als wäre es aus leicht zerbrechlichem Glas. Jenes Buch, das nun – zwei Tage nachdem ich es las – immer noch auf meinem Tisch liegt und mich jedes Mal an eines der vielen Schicksale hoffnungsvoller, werdender Eltern denken lässt, wenn ich auf den Einband schaue.

Wenn Du auf Schreie hoffst, aber nur Stille hörst…

Die Endlichkeit konfrontiert Tini und ihren Partner Fritzemann mitten in der Blüte ihres Lebens. Unvorbereitet, natürlich, denn wer oder was kann einen Menschen schon darauf vorbereiten? Im einen Moment noch euphorisiert, voller Vorfreude auf das gemeinsame Kind, den gemeinsamen Sohn, der, trotzdem er das Licht der Welt noch nicht erblickte, bereits ein fester Bestandteil IHRER Welt ist. Lasse soll er heißen. Ein Name, den Tini und Fritzemann sich als Ritual bereits im Krankenhaus gegenseitig mehrmals täglich auf die Körper schrieben. Ihre Lasse-Tattoos. Dieses führen sie auch fort, als sie schon wieder im vermeintlichen Alltag angekommen sind… allein, in Gedanken einsam auf einer kleinen Scholle im weiten Ozean treibend.

In der Klinik nutzten die beiden ihre Zeit, um sich behutsam von ihrem leblosen Kind zu verabschieden. Nun sind sie wieder in der normalen Welt. Doch was erscheint schon normal, wenn sich Dein Leben innerhalb kürzester Zeit um 180° dreht? Dich fallen lässt… ohne Blick auf den Grund? Du beim Verlassen der Klinik andere frischgebackene Eltern siehst, die ihr Kind gesund und munter in sein neues Heim… in sein Leben… begleiten? Und Du dich mit gesenktem Kopf niedergeschlagen zum Taxi schleppst, um dorthin zu fahren, wo Du am wenigsten sein möchtest: In die eigenen vier Wände, wo die Gedanken Achterbahn fahren. Der innerlich selber zerbrochene Partner der einzige Halt ist. Die Frage nach dem „Wieso?“ in Deinem Kopf von einem Flüstern zum grellen Schrei mutiert und Du deinen eigenen Körper verfluchst. Den Körper, der Leben schenken wollte und sollte, es aber nahm, sich über Wünsche, Träume und dem natürlichen Lauf der Dinge eigenmächtig und stur hinwegsetzte und entschied, gleich drei Menschen zu bestrafen. Zwei von ihnen finden Halt. Versuchen es. Versuchen zu verstehen, zu akzeptieren und den Verlust zu verarbeiten. Wunden heilen… die innerlichen langsamer, aber sie heilen. Und sie haben sich. Und mit ihnen einen kleinen Begleiter… die Hoffnung. Die wächst, so wie Lasse es getan hätte.

Die Zeit, die Leere füllt

Während der ersten Zeit, fällt es Tini und Fritzemann schwer, das Haus zu verlassen. Die Öffentlichkeit und das Leben außerhalb der eigenen Wände überfordern sie. Gefühlt fahren sie auf der linken Spur mit durchgetretenem Gaspedal, kommen aber keinen Meter voran. Das paar entwickelt Vermeidungsstrategien, um in der Öffentlichkeit möglichst wenig Kontakt mit Fremden zu haben. Tonnenschwere Gewichte ziehen sie herab. Hindern sie daran, ihren Alltag zu bewältigen. Und dann die Nächte. Nächte, die Ängste hervorrufen. Ängste vor den Träumen, in denen Tini sich vorstellt, wie ihr Leben mit dem kleinen Lasse gewesen wäre. Und die Erinnerungen an die Schwangerschaft, die in einer lebensverändernden Tragödie endete. Die in Sackgassen verlaufenden Fragen nach hätte?, wäre?, könnte?, die zermürbend sind, aber auch wütend machen.

Dann noch die Familie, die nicht mit offenen Armen zur Stelle ist, sondern eine Konfrontation regelrecht meidet, nachdem Tini einen beinahe aufdringlichen Besuch direkt nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus verständlicherweise abblockte. Ihre Schwester schafft es, nach Wochen einen Brief zu schreiben, dass sie sich im Hintergrund halten möchte und der spätere Besuch der Eltern gerät zum Fiasko. Alle waren ja so schrecklich betroffen, hätten geweint und… HALLO? Geht’s noch? Immerhin hatte Tini das traumatische Erlebnis und soll sich nun am besten noch dafür entschuldigen, dass sie der besorgten Verwandtschaft Kummer beschert hat? JA SCHÖNEN DANK AUCH! Dass ihre Mutter dann noch Sorge trägt, ihre Tochter könnte in den Drogensumpf abrutschen, weil sie in jungen Jahren mal was „geraucht“ hätte, so wie wahrscheinlich 70 bis 80% aller Teenager in einer rebellischen Selbstfindungsphase, setzt dem Ganzen die Krone auf und lässt Tini (auch künstlerisch dargestellt) Rot sehen. Aber mit Fritzemann hat sie einen Fels in der Brandung, den auch die höchste Welle nicht wegspült und der fest an ihrer Seite steht.

Tini will sich keine unbegründete Schuld einreden lassen und das Paar beginnt langsam aber sicher, wieder am Leben teilzunehmen. Anfangs ein Spießrutenlauf auf steinigem Weg, doch mit festem Schuhwerk und dem richtigen Partner an der Seite, lässt es sich auch über Felsen spazieren.

Von der Seele, zum Stift, aufs Papier

Tina Brenneisen zeichnet ihre Geschichte mit schnellen, teils schludrigen Strichen. Proportionen sind bei ihr nebensächlich… und so werden sie den Lesern auch erscheinen. Zumindest aus meiner Sicht hat es nicht gestört, dass die Charaktere unförmig und teilweise unfertig aussehen. Dafür ist der emotionale Gehalt der Geschichte viel zu groß, als dass dies als störend empfunden werden kann. Die Träume, Rückblenden und Wünsche sind dramaturgisch so gut inszeniert, dass man über die künstlerische Ausführung gerne hinwegsieht. Nach gut einem Drittel des Buches hatte ich mich sogar so an die Zeichnungen gewöhnt, dass ich Tina Brenneisens Stil vollkommen akzeptiert hatte. Vor allem, da man merkt, dass die Bilder mit viel emotionalem Antrieb zu Papier gebracht wurden. So, als wenn die bedrückend-mutige Geschichte möglichst schnell hinauswollte und der seelische Ballast durch ein geöffnetes Ventil geradezu in den Zeichenstift schoss.

Ein großes Lob an den Verlag Edition Moderne, der diese außergewöhnliche und sehr intime Graphic Novel, die bereits vor ihrer Veröffentlichung mit dem renommierten Berthold-Leibinger-Preis 2017 ausgezeichnet wurde, für alle interessierten Leser zugänglich macht. Das lesenswerte Nachwort stammt von der Psychiaterin und Traumatherapeutin Dr. Wiebke Baller. Die letzten beiden Seiten füllen Angebote für verwaiste Eltern, mit Kontaktadressen von Trauerbegleitungen, Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen für Betroffene in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Fazit:

Mutig und schonungslos verarbeitet Tina Brenneisen ihr eigenes Schicksal in einer Graphic Novel, die bewegender, trauriger und ja, auch lebensbejahender nicht sein könnte. Zuckt man beim Thema Totgeburt noch zusammen, egal, ob aus Sorge, Angst oder dem Nichtwissen, wie man dieses fragile Thema anfassen soll, ohne jemandem ungewollt vor dem Kopf zu stoßen, macht „Das Licht, das Schatten leert“ unglaublich viel Mut. Wir sehen ein liebevolles, sich innig liebendes Paar, das auf Knien durch einen scheinbar endlos dunklen Tunnel kriecht, um an dessen Ende stehend in den Sonnenaufgang zu blicken. Voller Hoffnung… und dem wiedererweckten Wunsch nach einem gemeinsamen Kind.

Das Licht, das Schatten leert

Tina Brenneisen, Tina Brenneisen, Edition Moderne

Das Licht, das Schatten leert

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