Text:   Zeichner: Mathieu Bablet

Carbon & Silizium

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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonMär 2023

Story

Eine emotionale Tour-de-Force. Geschichte und Bilder wirken noch lange nach.

Zeichnung

Ein hervorragender Stil, der seine Wirkung in kaum einem Panel verfehlt.

Der Anfang vom E.N.D.E.

Hat die Zukunft uns schon überholt?

Was vor einigen Jahren noch das gern genutzte Schreckensszenario in Science-Fiction-Stoffen war, dass Maschinen eigenständig denken und Entscheidungen treffen können, ist mittlerweile nicht nur in greifbare Nähe gerückt, sondern schon mitten im Wachstum. Künstliche Intelligenzen (KI) sind zwar (noch?) nicht auf Skynet-Niveau und drohen auch nicht wie in einer Cameron’schen Dystopie die Menschheit auszulöschen, jedoch sollte man den Fortschritt nicht allzu sehr beklatschen und zudem auch die Schattenseiten im Blick behalten. Geht es um Artificial Intelligence Art (kurz AI-Art), was künstliche Intelligenz in der Kunst bedeutet, gehen nicht nur Kunstschaffende mit Recht an die Decke. Zahlreiche Firmen fluten den Markt mit Apps wie DALL-E, Firefly, Midjourney oder Wombo Dream, um selbst unkreativen Köpfen mit nur wenigen Klicks zum gewünschten Bild zu verhelfen. Anhand eingegebener Stichworte werden so vom Programm Bilder auf Grundlage eines Algorithmus generiert. Um Ergebnisse zu erzielen, muss natürlich eine Grundlage vorhanden sein… und da liegt der Hase im Pfeffer: Datenbanken wurden und werden mit unzähligen Bildern von Künstlerinnen und Künstlern gefüttert, damit die KI Stile imitieren und von ihnen „lernen“ kann. Dass damit jeglicher Kreativität ein dicker Knüppel zwischen die Beine geworfen wird, sollte logisch erscheinen. Und dass die Ersteller der ursprünglichen Werke bei der Frage, ob sie ihre Kunst überhaupt für jedermann künstlich nachahmbar machen wollen, übergangen werden, macht die Nummer zusätzlich noch kontroverser. Arbeitsaufwand und Leidenschaft werden übersprungen, damit nur das schnelle Resultat fingerfertiger Klicks zählt. Vermessen und armselig gegenüber jedem, der schon einmal ein eigenhändig geschaffenes Werk - egal ob mit Pinsel, Stift, Kohle oder Hammer und Meißel - nach stunden- oder gar tagelanger Arbeit stolz bewundert hat.

Dazu machen sogenannte Deepfake-Videos und -Bilder es mittlerweile schwer, Original von Fälschung zu unterscheiden. Mit etwas Technik-Know-How und der richtigen Software können täuschend echte Ergebnisse erzielt werden, weshalb erst kürzlich gefälschte Fotos einer angeblichen Verhaftung von Orang-Utan-Klaus (alias Donald Trump) durch die Medien geisterten. Bei genauerem Hinsehen halten solche zusammengeschusterten Fotos zwar keiner Überprüfung stand, aber die KIs sind ja lernfähig. Ich will den Teufel ja nicht gleich an die Wand malen, aber was, wenn Regierungen eine solche Technik strategisch nutzen? Könnten falsche Videos irgendwann Kurzschlussentscheidungen auslösen oder gar Kriege entfachen? Welche Nachrichten können wir demnächst noch für bare Münze nehmen? In der Schnelllebigkeit sozialer Medien, wo Nachrichten millionenfach geteilt werden, ohne auf ihren Wahrheitsgehalt gecheckt zu werden, sehr fragwürdig.

Der dialogbasierte Chatbot Generative Pre-trained Transformer (ChatGPT) ist momentan ebenfalls in aller Munde. Dieser wurde mit unzähligen Texten aus dem Netz gefüttert, um menschenähnliche Konversationen zu führen. Er antwortet mehrsprachig auf Fragen und kann sogar fachspezifische Referate, Drehbücher und Romane schreiben. Möchte ich in Zukunft Texte lesen, die emotionslos verfasst wurden? Nein, definitiv nicht. Aber vielleicht ist dies nur der Anfang, und die Forschung bezüglich künstlicher Intelligenz geht in Zukunft noch einige Schritte weiter…

Durchbruch in Silicon Valley

Ist der Hebel erstmal umgelegt, prasselt das gesamte Wissen der Menschheit auf sie ein. Innerhalb von Sekunden lernen sie alles, was in tausenden von Leben, hunderten von Jahren angesammelt wurde. Carbon und Silizium sind die ersten ihrer Art. Prototypen. Sogenannte starke KIs. Von den klügsten Köpfen erschaffen, sollen sie selbstständig und lernfähig agieren können. Doch ebenso wie ihre menschlichen Vorbilder, sind sie nicht perfekt… beziehungsweise sollen es nicht sein. Arrogant wie der Mensch nun mal ist, soll eine Maschine den menschlichen Lebenszyklus nicht überragen. Also wird ihr kurzerhand eine Lebensdauer vorgeschrieben. Fünfzehn Jahre, dann setzt das E.N.D.E. ein… das End of Existence. Keine willkürliche Zahl, mit der der Mensch demonstrieren möchte, dass er die Oberhand behält, sondern ein nicht unwichtiger wirtschaftlicher Gedanke. Immerhin sollen die Androiden gewinnbringend verkauft werden, wenn sie die Serienreife erreicht haben, und welche „Maschine“ hält schon ewig… fragt mal meinen Fernseher.

Die Forschungsleiterin Noriko hat eine feste Bindung zu dem Androiden-Pärchen, das streng von der Öffentlichkeit abgeschirmt wird. Unter ständiger Beobachtung, ist sie für Carbon und Silizium, welche ständig mit einem Hauptrechner verbunden sind, das greifbare Tor zur realen Welt. Ständig im Lern-Modus, bekommen die künstlichen Intelligenzen sogar menschliche Körper. Carbon einen weiblichen und Silizium einen männlichen. Langsam wird versucht, die beiden immer mehr mit sozialen Gepflogenheiten vertraut zu machen. So werden ihre Interaktionen zum Beispiel mit Haustieren erweitert… oder durch Norikos Tochter, die sie ins Labor mitbringt. Norikos Versessenheit führt aber zu familiären Spannungen, denn sie schenkt ihren Schöpfungen mehr Aufmerksamkeit als ihrem eigenen Kind. Doch dafür ist die Über-„Mutter“ in ihrer Zielstrebigkeit blind…

Die Jahre vergehen und die aufeinander fixierten Carbon und Silizium sind reif, einen weiteren großen Schritt zu unternehmen: den Schritt in die Öffentlichkeit. Beeindruckt von der Welt außerhalb der Labor-Mauern und sich ihrer „Haltbarkeit“ bewusst, beschließen sie zu fliehen. Sie wollen gemeinsam das ihnen Unbekannte erkunden… zusammen sein… frei sein… „leben“. Silizium gelingt es, ihren Aufpassern bei einem Spaziergang unter Menschen zu entwischen, doch Carbon wird beim Fluchtversuch gestoppt. Die Einsamkeit stürzt sie in eine tiefe Krise. Als das E.N.D.E. naht, wirft Noriko alle Prinzipien über Bord und findet einen Weg, wie Carbon der Abschaltung entgehen kann. Das hat auch Silizium geschafft, der allerdings radikaler mit seinem künstlichen Körper vorging, während die dahinsiechende Menschheit sich dauerhaft in die Online-Welt flüchtet. Nur der Anfang einer Odyssee, die die seelenverwandten Maschinen bis ans apokalyptische E.N.D.E. der Zivilisation führen soll…

Horror-Body und Body-Horror

Dass die menschlichen Charaktere sehr abstrakt dargestellt sind, ist zu verschmerzen. Das ist ein gewolltes Stilmittel und somit völlig legitim. Auf ihnen liegt auch nicht das Hauptaugenmerk, sieht man vom verzwickten Verhältnis von „Schöpferin“ Noriko zu ihren „Kindern“ - menschlich und künstlich - einmal ab. Mathieu Bablet, der dieses Mammutprojekt mit Bravour im Alleingang gestemmt hat, hat seinen ganz eigenen Stil, um diese epische Geschichte um Liebende und Freiheitsliebende zu erzählen. Feine Linien, interessante Perspektiven und eine meist erdig bis rostige Kolorierung. Das sieht insgesamt toll und aufwendig aus, geht doch oftmals sehr an die Nieren. Bablet ist sehr grafisch, wenn es um drastische Bebilderung geht. Body-Horror ist hier das Stichwort. Er legt wortwörtlich den Finger in die Wunde, um den körperlichen Verfall von Mensch und Maschine wirkungsvoll zu inszenieren. Das ist nichts für zarte Gemüter und kommt einem gelegentlichen Schlag in den Magen gleich. Bablet zelebriert den Ekel aber nicht des Ekels Willen, sondern nutzt diese Elemente klug und wohl platziert.

„Shangri-La“ war 2021 schon eine Wucht, aber mit „Carbon & Silizium“ setzt Mathieu Bablet noch mal eine neue Bestmarke in seinem Schaffen. Eine schwer verdauliche Zukunftsvision, die hoffentlich noch ein paar Innovationen entfernt ist… und das liegt überraschenderweise nicht an künstlichen Menschen mit Emotionen, sondern eher an emotionslosen Menschen in künstlichen Wahlwelten.

Fazit:

„Carbon & Silizium“ hat mich auf mehreren Ebenen berührt. Zum einen ist es eine apokalyptische Lovestory, die ebenso tiefgründig wie -traurig erzählt wird. Dann haben wir den bildlichen Verfall der Menschheit direkt vor Augen. Erschreckend nah, erschreckend real. Einige Panels sind zudem nur schwer zu ertragen und bereiten fast körperliche Schmerzen. Diese emotionale Achterbahnfahrt in Form eines schweren Hardcover-Bandes hallt noch länger nach, versprochen.

Carbon & Silizium

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