Text:   Zeichner: Jacques Tardi

Burma (Gesamtausgabe)

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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonDez 2021

Story

Krimi-Klassiker in Comic-Form. Komplex, aber gut durchdacht aufs grafische Medium umgemünzt.

Zeichnung

Klare und sichere Linien. Speziell die Hintergründe stechen hervor und liefern die nötige Atmosphäre.

Die Akte Nestor

Am gesellschaftlichen Rand

Nestor Burma. Das Paradebeispiel eines mit allen Wassern gewaschenen Hard-Boiled-Detektivs, wie man ihn aus klassischen Noir-Krimis kennt. Unverheiratet, nicht auf den Mund gefallen, dem einen oder anderen Gläschen nicht abgeneigt und eine Schwäche für attraktive Frauen, die vorzugsweise knietief in Ärger stecken. Ein geborener Einzelgänger, der von der Hand in den Mund lebt und gerne den offiziell ermittelnden Kollegen an den Karren pisst. Erdacht hat sich diesen aus der Zeit gefallenen Haudegen der alten Schule Léo Malet (1909 – 1996). Als Malet als Sechzehnjähriger nach Paris kam, arbeitete er sich Stück für Stück die Karriereleiter empor. Vom Obdachlosen bis zum gefeierten Autor war es jedoch ein steiniger Weg. 1940, - das Jahr, in dem er Paulette Doucet heiratete - wurde Malet bis 1941 Kriegsgefangener. Diese Zeit verbrachte er im Stalag XB, in der Nähe von Bremen. Nach seiner Freilassung ging es dann beruflich bergauf. Als 1943 mit „120, Rue de la Gare“ seine erste Detektiv-Geschichte mit und um Nestor Burma erschien, war dies der Startschuss für eine langjährige Karriere. Sowohl für Léo Malet als auch für Privatschnüffler Burma. Die Ursprünge beider weisen dabei deutliche Parallelen auf. Der leidenschaftlich Pfeife paffende Detektiv kam ebenso wie sein Schöpfer in der Mitte der 20er-Jahre in die französische Hauptstadt und beide verkehrten in ähnlich selbstbestimmten Kreisen. Bis 1985 erschienen insgesamt 34 Burma-Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. Zu seiner Hochzeit in den 50ern schuf Malet die Reihe „Die neuen Geheimnisse von Paris“. Dort ließ er Nestor Burma quasi im Akkord in den unterschiedlichen Arrondissements von Paris ermitteln. Des Weiteren war Malets Schnüffler Hauptfigur in verschiedenen Comic-Adaptionen, Hörspielen, Verfilmungen und einer langjährigen TV-Serie.

Schwarz/Weiß-Malerei

Wie es sich für klassische Noir-Krimis gehört, kommen die Comic-Geschichten von Nestor Burma komplett farblos aus. Verschiedene Grau-Abstufungen sorgen dennoch für Abwechslung. Umgesetzt wurden die vier Storys von Altmeister Jacques Tardi. Der 1946 geborene Franzose erlangte vor allem durch seine frankobelgische Alben-Reihe „Adeles ungewöhnliche Abenteuer“ (in den 80ern zuerst übersetzt bei CARLSEN, dann EDITION MODERNE und ganz aktuell bei SCHREIBER & LESER als Gesamtausgabe im Programm) Bekanntheit, die 2010 von Kult-Regisseur Luc Besson („Léon - Der Profi“, „Das fünfte Element“, die Comic-Adaption „Valerian“) unter dem Titel „Adèle und das Geheimnis des Pharaos“ verfilmt wurde. Tardis Trilogie „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“, in der er über das Leben seines Vaters berichtet, wurde hochgelobt und ausgezeichnet.

Trotz des Noir-Charakters sind die Zeichnungen in „Burma“ nur selten von Dunkelheit durchzogen. Dafür sorgen allein die zahlreichen Sprechblasen und Text-Kästen. Zu lesen gibt es in dem dicken Band nämlich enorm viel. Ebenso wie für die vollgepackten Panels, sollte man sich auch für die Texte ausreichend Zeit nehmen. Diese quellen anhand der Informationsflut förmlich über und bei den zahlreichen Ortsbeschreibungen und Namen kann es schnell vorkommen, dass man den Anschluss verliert bzw. wichtige Details einfach übersieht. Besonders die detaillierten Hintergründe und Umgebungen haben es mir angetan. Wenn Nestor Burma gedankenversunken durch die Straßen schlendert, hat man fast schon melancholische Chansons in den Ohren, während einem Pfeifendampf und der Geruch von Pastis langsam in die Nase steigen.

Vier verschachtelte Fälle

Das schwere Hardcover aus dem Schweizer EDITION MODERNE Verlag (ungewöhnlich: erhältlich in vier verschiedenen Farben) setzt sich aus den Geschichten „120, Rue de la Gare“, „Wie steht mir Tod?“, „Die Brücke im Nebel“ und „Kein Ticket für den Tod“ zusammen. Die erste Story ist mit rund 190 Seiten am umfangreichsten und setzt im September 1940 ein. Nestor Burma befinden sich im Gefangenenlager Stalag XB (eine weitere Gemeinsamkeit mit Autor Malet). Dort weckt ein mitgefangener Unbekannter, den alle nur La Globule (dt.: Blutkörperchen, Augäpfelchen) nennen, sein Interesse. Schwer verwundet von den Deutschen aufgegriffen, scheint La Globule sein Gedächtnis verloren zu haben. Nicht wenige halten ihn für einen Simulanten, um wieder in die Heimat entlassen zu werden, doch Burma zweifelt an, dass man eine solche Tarnung über Monate aufrechterhalten kann. Als La Globule im Winter 1941 schwer erkrankt und bettlägerig mit dem Tode ringt, haucht er Nestor Burma mit letzter Kraft „Sagen Sie Hélène… 120 Rue de la Gare…“ zu, bevor er endgültig die Augen schließt. Nach der Befreiung befindet sich Burma mit dem Zug auf dem Rückweg in die ersehnte Heimat. Bei einem Zwischenstopp am Bahnhof in Lyon erblickt er einen seiner Mitarbeiter. Als Bob Colomer Burma im Zug sieht, stürmt er unvermittelt auf den alten Freund zu, da er dringende Informationen für den Detektiv hat. Gerade noch kann ihm Bob „120 Rue de la Gare…“ zurufen, bevor er blutüberströmt auf dem Bahnsteig zusammenbricht. Bob ist tot… erschossen. Und Nestor Burma steckt mitten in seinem vielleicht dicksten Fall.

In den weiteren Ermittlungen taucht Burma in die gar nicht so glamouröse Welt des Show-Business ein, macht die Bekanntschaft einer mysteriösen Schönheit und schafft es, sich selbst auf einem eigentlich vergnüglichen Jahrmarkt in Teufels Küche zu bringen. Und wie in jedem Fall, muss er tief graben, um Licht ins Dunkle zu bringen. Die Wahrheit liegt niemals klar ersichtlich auf der Hand. Burma muss ebenso einstecken wie austeilen, will er der Gerechtigkeit Genüge tun. Mit Witz, zweifelhaftem Charme, geballten Fäusten und messerscharfem Verstand.

Fazit:

Der harte schwarz/weiß-Kontrast zieht sich nicht nur visuell durch die äußerst gelungene Gesamtausgabe. Er steht sinnbildlich für Burmas Windmühlen-Kampf gegen das Verbrechen, gesellschaftliche Kluften und den Tag/Nacht-Wechsel, der die verträumte Stadt der Liebe zum Tummelplatz für Ganoven und zwielichtige Gesellen macht. Für Noir-Liebhaber und Freunde von verschachtelten Kriminalgeschichten eine uneingeschränkte Empfehlung mit langer Lese-Garantie.

Burma (Gesamtausgabe)

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