Akira

Film-Kritik von Marcel Scharrenbroich (12.2020) / Titelbild: © LEONINE

Der Eine unter Vielen

Nach HEIDI kam… AKIRA

Reden wir in Deutschland über Manga und Anime, sind wir verhältnismäßig frisch auf diesem Genre-Parkett unterwegs. Im Laufe der Jahre hat sich dieser Stand schon schwer verändert und deutsche Verlage haben ordentlich Boden gut gemacht. Mit einer Masse, wie sie der japanische Markt bietet, können wir zwar nicht mithalten, aber wichtige und einflussreiche Reihen haben durchaus ihre Wege in die westlichen Händlerregale gefunden. Tatsächlich fällt es schwer, den Überblick zu behalten, da pro Monat weit über 100 Titel für deutsche Leserinnen und Leser publiziert werden. Dabei war „Akira“ von Katsuhiro Otomo Anfang der 90er-Jahre die erste Manga-Reihe, die komplett in deutscher Übersetzung erschien. Verantwortlich dafür war der CARLSEN Verlag, der damit mutig voranpreschte. Einige Jahre später fiel dann der Startschuss für „Dragon Ball“. Die langlebige Serie wurde ebenfalls von CARLSEN veröffentlicht und läutete den Manga-Boom erst richtig ein, nachdem man mit „Akira“ bereits auf Tuchfühlung beim potentiellen Kunden ging. Auch die zugehörige Zeichentrickserie war ein Dauerbrenner im TV. Dort kamen wir allerdings schon deutlich früher mit japanischer Zeichenkunst in Berührung.

Kinder der 80er dürften bestimmt noch die Serien „Die Biene Maja“, „Heidi“ oder auch „Alice im Wunderland“ kennen. Seit 1977 liefen diese im öffentlich-rechtlichen TV rauf und runter und werden tatsächlich den Animes zugeordnet, da sie aus japanischen Zeichentrick-Studios stammen. 1980 richtete sich dann „Captain Future“ an die jungen Science-Fiction-Freunde. Vom verantwortlichen Sender grauenhaft zerstückelt, gekürzt und inhaltlich durcheinandergewürfelt, kann man die Weltraum-Abenteuer – basierend auf den Pulp-Storys von Edmond Hamilton – mittlerweile aber vollständig und in richtiger Reihenfolge im Heimkino genießen. Hoch anrechnen muss man allerdings, dass für den deutschen Markt eigene Musik komponiert wurde (nicht nur für „Captain Future“, sondern auch Karel Gotts Intro für „Die Biene Maja“ wurde zum Gassenhauer… und zur Lall-Hymne bei Karaoke-Partys). Der „Captain Future“-Soundtrack von Christian Bruhn ist längst Kult und fester Bestandteil liebgewonnener Kindheitserinnerungen. Ein paar Jahre sollte es noch dauern, bis das Sci-Fi-Genre im Anime nochmals einen gehörigen Sprung nach vorne machte…

Nach einer Berlinale-Vorführung im Jahr 1989 folgte Mitte 1991 auch die reguläre Kinoauswertung von „Akira“. Dort hielt er sich zwar nicht lange, wurde anschließend aber ein Videotheken-Geheimtipp. Die VHS-Kassette warb reißerisch mit dem Text-Zusatz „Der Zeichentrick-Blade Runner der 90er“. Und ganz unrecht hatten die Marketing-Verantwortlichen von WARNER BROS. damit nicht, denn „Akira“ war für meine damals noch jungen Augen ein faszinierender Overkill sondergleichen.

„KANEEEEEDAAAAAAA!!!“

Wir schreiben das Jahr 2019. Zumindest schrieb Katsuhiro Otomo dies im Jahr 1982, als seine „Akira“-Saga im japanischen Young Magazine ihren Anfang nahm. Und hätte er damals schon geahnt, welche Scheiße im tatsächlichen 2020 passiert, hätte er vielleicht sogar dieses Jahr gewählt. Jedenfalls sieht seine Zukunft, besagtes 2019 (im englischen und deutschen Manga 2030) auch nicht so rosig aus: Nachdem die japanische Hauptstadt Tokio 1988 (im englischen und deutschen Manga 1992) nach einer atomaren Explosion dem Erdboden gleichgemacht wurde, hat man diese als Neo-Tokio inzwischen wieder weitestgehend neuerrichtet. In diesem postapokalyptischen, neondurchfluteten Moloch herrscht Gewalt an jeder Straßenecke. Gangs liefern sich erbitterte Kämpfe. Preschen auf ihren hochtechnisierten Motorrädern durch die Straßenschluchten, während sie sich ohne Rücksicht auf Verluste bei hohem Tempo mit der Konkurrenz bekriegen. Dies ist an der Tagesordnung. So auch in der schicksalhaften Nacht, als die Gang um Shōtarō Kaneda sich mal wieder mit den „Clowns“ anlegt. Die Gangs liefern sich eine wilde Verfolgungsjagd auf den Straßen von Neo-Tokio, als urplötzlich ein merkwürdig aussehender Junge vor ihnen auftaucht. Testsuo Shima, Kanedas schwächlicher Freund, kann nicht mehr ausweichen und kollidiert mit dem seltsam vergreist wirkenden Burschen. Es folgt eine Explosion, die beide jedoch überleben. Der fremde Junge sogar vollkommen unverletzt. Gerade als Kaneda und die anderen Mitglieder der Gang an der Unfallstelle eintreffen, ist auch schon das Militär vor Ort.

Während die anderen von den Beamten einkassiert werden, verfrachtet man Testsuo in eine Art Krankenhaus. Viel mehr eine wissenschaftliche Einrichtung, denn der Zusammenprall hat weitreichendere Folgen, als sich jeder Beteiligte ausmalen kann. Tetsuo entwickelt übernatürliche Fähigkeiten. Es fängt im Kleinen an. Mal ein Glas, welches er telekinetisch bewegt, dann albtraumhafte Visionen, begleitet von wahnsinnigen Kopfschmerzen. In dieser Einrichtung befindet sich auch Takashi, der Junge, der unfreiwillig den Unfall auf der Straße provozierte. Neben ihm gibt es zwei weitere Kinder, an denen die Regierung Experimente durchführt. Und scheinbar tun sie dies schon sehr lange… denn immer wieder ist von einem mysteriösen Akira die Rede. Einem weiteren Geheimexperiment. Jener Akira, der die Katastrophe im Jahr 1988 auslöste und so den Dritten Weltkrieg entfachte. Schnell merken die Wissenschaftler, dass Tetsuos Kräfte stetig wachsen. Dies bemerkt der Junge auch selber und findet schon bald Gefallen daran. Kaneda, der sich einer Rebellen-Gruppe angeschlossen hat, um den Freund zu befreien, muss einsehen, dass sein ehemaliger Schützling nicht länger auf seine Hilfe angewiesen ist. Tatsächlich mutiert Tetsuo zu einer unberechenbaren Gefahr. Nicht nur für Kaneda, sondern für ganz Neo-Tokio. Ohne Rücksicht auf Verluste flüchtet Tetsuo aus dem wissenschaftlichen Komplex. Sein zerstörerischer Weg führt ihm zum Olympia-Stadion, unter dem sicher hinter dicken Mauern verwahrt sein Ziel wartet: Akira.

Bild für Bild gewaltig

Junge, junge… was hat mich der Film damals weggebügelt. Es war eine grottenschlechte VHS-Aufnahme eines Schulkameraden und trotzdem ließ sich in jeder Szene erkennen, was für ein Aufwand hinter dieser zweistündigen Bombast-Demonstration steckte. Selbst heute kann „Akira“ noch locker mit der Genre-Konkurrenz mithalten. Auch wenn aktuellere Animes wie „Your Name.“, „Fireworks“ oder „Weathering With You“ in leuchtenden Farben erstrahlen und die STUDIO GHIBLI-Produktionen inhaltlich und optisch auf ganz hohem Niveau rangieren, ist es erstaunlich, mit wie viel Liebe zum Detail „Akira“ schon 1988 produziert wurde. Damals redete noch niemand von perfekten Computer-Effekten, die Wasser realer erscheinen lassen, als eine tatsächliche Arschbombe ins… aufs Tote Meer. Zwar wurden bei „Akira“ ebenfalls Rechner zur Hilfe genommen, allerdings in einem sehr überschaubaren Rahmen und hauptsächlich bei der Beleuchtung. Und von PIXAR, DREAWORKS & Co. war man zu diesem Zeitpunkt noch ein paar Ecken entfernt. Zumindest von den abendfüllenden Unterhaltungs-Maßstäben, die wir heute kennen. Es gab Mitte der 80er-Jahre bereits die beiden Kurzfilme „The Adventures of André and Wally B.“ (LUCASFILM COMPUTER GRAPHICS PROJECT) und „Luxo Jr.“ (PIXAR), die lediglich die Richtung vorgaben, in die es einmal gehen sollte, aber vollständig konnten die aufwendigen Animationen noch keinen Film tragen. „Akira“ setzte diese Technik auch sehr reduziert ein und setzte weiterhin auf handgezeichnete Bilder.  Über 160.000 Zeichnungen wurden auf Animations-Folien übertragen, was vergleichbare Produktionen deutlich in den Schatten stellte. So erreichte man extrem flüssige Bewegungsabläufe, die man bis dato nur von den US-Kollegen aus der DISNEY-Schmiede kannte. Bei den halsbrecherischen Motorrad-Verfolgungen durch Neo-Tokio und beim explodierenden Showdown lassen die Zeichnungen dann auch deutlich ihre Muskeln spielen. Zur damaligen Zeit noch recht unkonventionell, war eine Methode, bei der die Stimmen zuerst aufgenommen wurden. So konnten die Zeichner anschließend anhand der Dialog-Vorlagen möglichst lippensynchron arbeiten, was Synchro-Guckern (wie mir) dann im Endeffekt wohl nur wenig auffällt. Aber die O-Ton-Gemeinde wird sich freuen.

Teil des Ganzen

Schaut man sich „Akira“ an, hat man nicht den Eindruck, dass etwas fehlen könnte. In Wahrheit deckt der Film aber nur einen Teil der gesamten Saga ab. Zum einen, da die komplette Story den zeitlichen Rahmen eines Films mehr als nur gesprengt hätte. Zum anderen war die Geschichte bei Erscheinen des Films noch gar nicht zu Ende erzählt. Katsuhiro Otomo, der auch das Drehbuch verfasste und Regie führte, vollendete „Akira“ erst rund zwei Jahre später, also im Jahr 1990. So kommen viele Charaktere der Manga-Vorlage im Film nur am Rande vor, was nicht-Kennern nicht weiter ins Auge fällt. Für Leser, die mit dem gedruckten „Akira“ bereits vertraut sind, ein paar nette Hommagen. Allerdings ohne großen Mehrwert, da die zweistündige Spieldauer einfach nicht mehr Raum für weitere Story-Arcs lässt.

Im Laufe der Jahre erschien die Manga-Reihe in unterschiedlichen Formaten. Aus den 120 Episoden, die im bereits angesprochen Manga-Magazin Young Magazine herausgebracht wurden (Ein kleines Easter-Egg zur Zeitschrift findet sich auf dem Shirt eines Passanten von Neo-Tokio), machte man nach der Fertigstellung sechs Bücher. In den Vereinigten Staaten wurde „Akira“ ebenfalls veröffentlicht und gleichzeitig für die westlichen Leserinnen und Leser gespiegelt, sodass die vertraute Leserichtung von vorne nach hinten und von links nach rechts den Einstieg in das komplexe Werk vereinfachte. Zwischen August 1988 und Februar 1996 erschienen 38 Ausgaben beim MARVEL-Imprint EPIC, bei dem man Creator-Owned-Comics- und -Reihen herausbrachte, die außerhalb der gewohnten Superhelden-Kontinuität angesiedelt waren. So zum Beispiel „ElfQuest“, „Blueberry“, „Clive Barker’s Hellraiser“ oder William Shatners „TekWorld“.

In Deutschland war, wie eingangs bereits kurz angerissen, der CARLSEN Verlag für „Akira“ verantwortlich. Zwischen 1991 und 1996 erschien die komplette Reihe in 19 Softcover-Bänden, die um einen abschließenden Bonus-Band ergänzt wurden, in dem es Interviews, Skizzen und allerlei Wissenswertes zum Thema nachzulesen gab. Im Jahr 2000 erfolgte eine Neuveröffentlichung in sechs dicken Bänden, die sich mit der zeitnah publizierten US-Edition aus dem Hause DARK HORSE deckte. Ende 2016 legte man bei CARLSEN eine auf 1.991 Exemplare limitierte Liebhaber-Gesamtbox nach, die sich in einer passenden Tragetasche befand und zudem die aufwendig kolorierte Fassung von „Akira“ beinhaltete. Seit März 2019 sind diese sechs Farb-Bände auch einzeln erhältlich.

Frisch poliert

War „Akira“ lange Zeit nur auf DVD verfügbar, und das in einer Qualität, die… hm, die Grenzen des digital-möglichen nicht voll ausreizte (um es noch einigermaßen nett auszudrücken), dauerte es bis Herbst 2014, bis der Film zu HD-Ehren kam. UNIVERSUM FILM spendierte dem Anime-Klassiker ein schönes Steelbook und uns geneigten Fans ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk. Nicht ganz zwei Jahre später legte man die günstigere Keep Case-Variante nach. Nun, im Dezember 2020, legte der Publisher LEONINE, hinter dem sich unter anderem ein Zusammenschluss von UNIVERSUM FILM und CONCORDE FILMVERLEIH verbirgt, endlich eine Fassung für die aktuelle Heimkino-Generation vor

 „Akira“ in 4K ist dabei keine Offenbarung oder ein neuer Referenz-Titel, was man bei einem Zeichentrickfilm von 1988 auch nicht erwarten sollte, dafür aber eine deutliche Steigerung zur bisherigen Blu-ray. Glücklicherweise wurde nicht zu tief in den Farbtopf gegriffen und die Kolorierung fällt angenehm natürlich aus. Im direkten Vergleich zur ersten Blu-ray scheinen bei der neu gemasterten Fassung (mit HDR) ein wenig die Grün/Blau-Werte erhöht worden zu sein, während der Rotstich zurückgefahren wurde. Für meine Augen sehr angenehm… aber die ollen Klüsen sollte man ebenfalls nicht als Referenz nehmen, weshalb das Empfinden da eher subjektiv ist. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Bild knackscharf und die Neon-Schilder in Neo-Tokio erstrahlen in nie dagewesenem Glanz. Eine Blu-ray-Variante liegt dem Keep Case (mit Wendecover) im roten O-Card-Schuber ebenfalls bei. Über diesem liegt noch ein Umleger, der auf der Rückseite die nötigen Infos versammelt und mit dessen Abnahme sich der lästige FSK-Sticker auf der Front ohne Klebepunkte und somit rückstandslos entfernen lässt. Die Rückseite des matten Schubers ziert ein weiteres Motiv mit Hauptcharakter Shōtarō Kaneda und dem „Akira“-Schriftzug.

Neben dem japanischen Originalton (deutsche Untertitel sind verfügbar) in DTS-HD 5.1 findet sich auch die deutsche Synchronfassung von 2005 in diesem Tonformat vor. Hier spalten sich ja die Lager und viele Fans bevorzugen diese Sprachfassung, da diese sich näher am Original orientiert. Für „Akira“-Kenner der ersten Stunde ist aber auch die ursprüngliche Synchron-Fassung von 1991 enthalten. Diese allerdings nur in DTS-HD 2.0 Master Audio. Hier entscheidet der persönliche Geschmack. Auch, weil Sprecher Julien Haggège (Stammsprecher von Jensen Ackles, Colin Hanks und Justin Long) in der Ur-Synchro Tetsuo spricht und in der 2005er-Fassung Kaneda vertont. Überraschenderweise kann ich mich persönlich mit beiden arrangieren, auch wenn die Original-Synchro sich in den frühen 90ern eingebrannt hat.

Das Bonusmaterial umfasst insgesamt 63 Minuten, was sich per se nicht wenig anhört, aber durchaus üppiger hätte ausfallen dürfen, dreht sich doch der Löwenanteil der Extras explizit um den Sound. Im Einzelnen hätten wir da das Sound Making 2019, Sound Clip by Geinoh Yamashirogumi, End Credits (1988) und die gezeichnete Storyboard Gallery von Katsuhiro Otomo. Ein richtiges Making-of oder ein Vergleich zur Manga-Vorlage wäre wünschenswerter gewesen.

Fazit:

Da ich rundum zufrieden damit bin, meinen Lieblings-Anime und Türöffner in die Manga-Welt in dieser hochwertigen Qualität schauen zu können, verzeihe ich auch gerne die kleinen Abzüge in der B-Note. In absehbarer Zukunft wird man diesen wegweisenden Sci-Fi-Klassiker wohl nicht besser aufpoliert zu Gesicht bekommen. Und festzuhalten ist, dass „Akira“ auch nach über 30 Jahren auf dem Buckel nicht an Strahlkraft verloren hat.

Wertung: 9

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Fotos: © LEONINE

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