Sandmann

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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonMai 2019

Story

Großartig, poetisch und tiefgründig geschrieben. Eine Neuinterpretation, an der nicht nur E.T.A. Hoffmann seine dunkelste Freude hätte.

Zeichnung

Ein bizarr-groteskes schwarz-weiß-Meisterwerk, das die tiefsten seelischen Abgründe auf Papier bannt. Surreal, düster und künstlerisch-kreativ!

Ein Auge für Fortsetzungen

Nicht nur Nathanael schlottern die Knie

… wenn es um den „Sandmann“ geht. So mancher Leser dürfte sich beim Namen E.T.A. Hoffmann mit Schnappatmung an seine Schulzeit zurückerinnern. Egal ob die Kunstmärchen „Der goldne Topf - welches als die erfolgreichste Novelle des Autors gilt -, „Klein Zaches genannt Zinnober“ oder jener besagte „Sandmann“, gleich mehrere Titel des Verfassers klassischer Schauerliteratur stehen seit Jahren fest im Lehrplan vieler deutschen Schulen. Denjenigen, die die Hoffmannsche Literatur noch vor der Brust haben, sei gesagt: seid froh, dass nicht von Kleists „Michael Kohlhaas“, Theodor Storms „Der Schimmelreiter“ oder „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller auf dem Plan auftauchen. Dagegen lässt sich Hoffmann wirklich sehr gut lesen…

Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns (1776 – 1822) Erzählung aus der schwarzen Romantik wurde erstmals 1816 publiziert. „Der Sandmann“ gehört zum zweiteiligen Erzählzyklus „Nachtstücke“, in denen Hoffmann acht phantastische Geschichten um psychischen Verfall, Wahnsinn und unheimliche, nächtliche Vorgänge thematisiert.

Was bisher geschah…

Die ursprüngliche Erzählung handelt vom jungen Studenten Nathanael. Dieser berichtet in einem Brief - der eigentlich an seinen Ziehbruder Lothar gehen soll, irrtümlich aber an dessen Schwester und zugleich Nathaniels Verlobte Clara adressiert wird -, dass ihn eine kürzliche Begegnung massiv beunruhigt. Ein aufdringlicher Händler von Wettergläsern – sein Name ist Coppola - versuchte Nathaniel seine Ware aufzuschwatzen und erinnerte ihn gravierend an einen Mann aus seiner Vergangenheit… den Advokaten Coppelius.

Coppelius besuchte einst häufiger Nathanaels Vater und gemeinsam führten diese merkwürdige alchemistische Experimente durch. Im zarten Kindesalter sollte Nathanael eigentlich nichts von diesen Machenschaften mitbekommen und zu später Stunde bereits in seinem Bett liegen, doch selbst das schaurige Märchen seiner Mutter - welches von seiner Amme noch an Intensität gesteigert wurde -, dass der Sandmann kommt und den Kindern Sand in die Augen streut, hielt ihn nicht davon ab, sich im Zimmer zu verstecken und seinen Vater und Coppelius zu beobachten. Nathanael blieb nicht unentdeckt. Der finstere und aufgebrachte Coppelius mutierte in Nathanaels kindlichen Gedanken zum furchterregenden Sandmann, der den Kindern die Augen ausreißt… nicht zuletzt dadurch, weil er Nathanael nach seiner Entdeckung eben dieses androhte und sein Vater bei einer späteren Explosion in seinem Arbeitszimmer ums Leben kam, woran der Junge letztendlich Coppelius die Schuld gab, der immerhin an den seltsamen Experimenten beteiligt war.

Die Begegnung mit dem mysteriösen Händler hat alte, scheinbar längst verheilte Wunden wieder aufgerissen und Nathanael beschließt, Clara und Lothar zu besuchen. Dort angekommen, lassen die Geister der Vergangenheit ihn auch in den Armen seiner Liebsten nicht los und der dämonische Sandmann ist immer präsent. So präsent, dass es fast zum Bruch zwischen Nathanael und Clara kommt. Auch das Verhältnis zu Lothar wird auf eine harte Probe gestellt und endet beinahe tödlich.

Noch bevor die Situation zu eskalieren droht, raufen sich die Parteien aber wieder zusammen und Nathanael kehrt zurück in sein gewohntes Leben und somit in seine vertraute Umgebung. Dort muss er allerdings feststellen, dass sein Wohnhaus abgebrannt ist. Eine neue Bleibe findet er gegenüberliegend des Hauses seines italienischen Physikprofessors Spalanzani. Dessen Tochter Olimpia sitzt stets reglos am Fenster und schaut ins Leere…

Bei einem erneuten Aufeinandertreffen mit dem Händler Coppola, kauft Nathanael diesem ein Fernglas ab… glaubt er doch mittlerweile, dass die Ähnlichkeit, die er zum verhassten Coppelius gesehen hat, nur ein Hirngespinst war.  Als er dieses Glas ausprobiert und hinaus sieht, fällt sein Blick auf Olimpia und er entdeckt deren wahre Schönheit. Eine Schönheit, die seine Verlobte Clara bald verblassen lässt. Olimpia ist jedoch nicht, was sie zu sein scheint…

Neuer Ansatzpunkt

E.T.A. Hoffmanns Erzählung nimmt kein gutes Ende für den labilen Nathanael. Über den genauen Ausgang und die Wendungen, die „Der Sandmann“ noch parat hält, hülle ich mich an dieser Stelle jedoch in Schweigen.

Der Autor Michael Mikolajczak, der mit „Blutspur“ und „Ratten“ in letzter Zeit erst zwei hervorragende Werke vorgelegt hat, erzählt mit seinem „Sandmann“ eine fiktive Fortsetzung von Hoffmanns düsterer Schauermär. Er bedient sich an bekannten Motiven der Vorlage, nimmt Charaktere heraus, formt sie neu und platziert sie in einem bizarren Szenario, das alle Vorgaben einer Hommage erfüllt, jedoch erfrischend neu und eigenständig wirkt. Wir haben es also nicht mit einer Fortsetzung im klassischen Sinne zu tun, sondern eher mit einer Neuinterpretation. Diese ändert den bekannten Status Quo und verleiht den ursprünglichen Charakteren neue und interessante Facetten.

Die Rückkehr der schwarzen Romantik

Nathanael und der gebrechliche Coppelius wohnen im gleichen Haus. Von einem nachbarschaftlichen Verhältnis kann jedoch keine Rede sein. Beide meiden sich, wo es nur geht. Coppelius lebt zurückgezogen, abgeschottet… nach dem tragischen Tod seiner Frau, einer Verkettung von unglücklichen Umständen. Verbittert, dem körperlichen und seelischen Verfall vollkommen ausgeliefert. Mit seinem Nachbarn wechselte er bisher nie ein Wort, weiß jedoch, dass dieser ihn den SANDMANN nennt. Ihm aus dem Weg geht, ihn anklagt, verabscheut, ihn fürchtet… aber auch Nathanael hat ein dunkles Geheimnis. Und auch er wird gefürchtet. Gefürchtet von Coppelius. Obwohl Nathanael, dem Wahnsinn sichtlich nahe, zusammen mit seiner Frau Clara das Bett teilt, gilt seine bedingungslose Liebe nur der EINEN… Olimpia. In den tiefschwarzen Gewölben des Hauses wartet sie auf ihn. Wartet darauf, dass seine knochigen, spindeldürren Finger ihre Porzellanhaut zitterig berühren. Coppelius weiß um Nathanaels Geheimnis. Hat ihn beobachtet. Von seinem selbst auferlegten Gefängnis aus gesehen… gesehen, wie die hagere Gestalt wie in Trance durch den Regen stapft. Gesehen, was er getan hat… was er verheimlicht. Heute Nacht kreuzen sich ihre Wege. Heute trifft Nathanael auf den SANDMANN.

Meisterwerk in 5 Akten

Dieser kammerspielartige Psycho-Trip mit dunklen Thriller-Elementen und surrealen Auswüchsen begeistert mich gleich auf mehreren Ebenen. Hier wird nicht einfach nur eine Vorlage adaptiert. Hier wird Neues geschaffen. Hoffmanns Geschichte wird aber auch nicht ignoriert! Mikolajczak verwendet Versatzstücke aus der alten Novelle, welche von Zeichner Jacek Piotrowski genial in schaurig-bizarren Bildern festgehalten werden. Ehemals Gesprochenes wird nun bildlich dargestellt. Nicht immer im gleichen Kontext, aber mit sichtbaren Parallelen auf Papier verewigt. Generell ist Piotrowskis Stil eine Liga für sich. Groteske Verrenkungen, abstrakte Blickwinkel, phantasmagorisches Schattenspiel… ein Strudel von Wahn und Wirklichkeit. Ein Charakter, eingefügt als Fotografie, der den Kontrast… die extravagante Ebene, auf der wir uns bewegen, nur noch mehr verdeutlicht.

Auch die anachronistische Handlung übt einen besonderen Reiz aus. Diese Erzählweise wirkt als die einzig Richtige, fängt sie die unheilvolle Atmosphäre doch perfekt ein und spült den letzten Tropfen Rationalität die regenbedeckten Straßen dieser Albtraum-Welt hinunter. Dies bewirkt, dass es keinen rettenden Anker, an den wir uns klammern könnten, in Sichtweite gibt. Einen Anker, der Realismus symbolisiert. Es zeigt, dass jederzeit ALLES passieren kann, wenn Angst, Wut und Wahnsinn aufeinanderprallen.

Im Anhang des Buches finden sich noch Charakter- und Cover-Entwürfe von Jacek Piotrowski, die die Entwicklung der Hauptakteure zeigen. Neben dem regulären Hardcover hat Kult Comics zusätzlich eine auf 40 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe mit signiertem Exlibris und Variant-Cover herausgegeben.

Fazit:

Ich las „Sandmann“ von Michael Mikolajzak und Jacek Piotrowski völlig unvorbereitet… zumindest beim ersten Mal. Ich war angetan… zwar etwas verstört, aber angetan. So angetan, dass ich mich danach zwei Tage genauer mit der Erzählung von E.T.A. Hoffmann aus dem Jahr 1816 befasste, die ich nur noch lose in Gedanken hatte. Dann las ich die Graphic Novel erneut. Wie sang Liedermacher Klaus Lage einst? „… und es hat *ZOOOOM!!!* gemacht.“

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