Ratten

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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonJul 2018

Story

Endzeit-Setting ohne Zombies. Geht das? Und wie! Der reale Horror ist immer noch der Schrecklichste… und das zeigt der Autor auf jeder einzelnen Seite.

Zeichnung

Klassisch, strukturiert und detailliert. Der Kontrast zwischen großflächigen Schattierungen und starken, farblichen Akzenten funktioniert hervorragend. Insgesamt eine sehr stimmungsvolle Kolorierung.

*SHREEEEEEEK*

Wenn dein beschissener Vorname zum kleinsten Problem des Tages wird…

Stell dir vor, du heißt Edgar. Nein… besser noch: stell dir vor, du heißt Edgar und bist ELF Jahre alt. Nicht so prickelnd, oder? Da ist die tägliche Dresche auf dem Schulhof ja schon vorprogrammiert. Jaja, Kinder können grausam sein… doch vielleicht waren seine Eltern ja literaturbegeistert? Edgar Allan Poe war schließlich ein namhafter und famoser Autor. Auch Tarzan-Schöpfer Edgar Rice Burroughs ist ein nicht gerade unbeschriebenes Blatt. Vielleicht benannten sie ihn aber auch nach der Oper von Giacomo Puccini? Oder sie waren einfach nur Fans vom „Frosch mit der Maske“… man weiß es nicht. Interessant wird es aber, wenn man sich den Ursprung des Namens näher betrachtet. Dieser setzt sich nämlich aus den angelsächsischen Silben „ead“ und „gar“ zusammen, was so viel bedeutet wie „Der seinen Besitz mit dem Speer verteidigt“. Gar nicht so abwegig und unwichtig für die vorliegende Geschichte…

Jedenfalls ist unser elfjähriger Edgar ganz und gar nicht begeistert von seinem Namen und hasst seine Eltern dafür. Eltern, die sich nur streiten und anschreien… wenn sie nicht gerade ihn anschreien, wegen seiner durchwachsenen, schulischen Leistungen. Sollte seiner Familie das gleiche wiederfahren, wie der von seinem besten Freund Tobi? Bei denen ging es nämlich ähnlich rund… und was taten sie? Ließen sich scheiden. Und wer war der Leidtragende? Klar, natürlich Tobi. Wie es halt immer ist: die Unbeteiligten leiden am meisten. Die Trennung seiner Eltern war noch ziemlich frisch und deshalb konnte sich Tobi nicht mal an seinem Geburtstag ein Lächeln abringen. Wie auch, wenn die eigene Mutter nicht aufkreuzt. Geflennt wie ein Mädchen hat er… tolle Feier.

Die „fröhliche“ Gartenparty endet und Edgar schlendert nach Hause. Im Gepäck: seinen Scheißnamen und den Gedanken an seine sich ankeifenden Eltern. Wäre es doch nur das gewesen. Was der Junge dann in seinem Elternhaus vorfindet, lässt alle tiefsten Albträume wie einen rauschenden Kindergeburtstag bei Tobi aussehen... selbst mit dessen andauerndem Geheule. Alle Probleme werden mit einem Schlag nichtig. Alles bisherige zerplatzt, wie eine poröse Seifenblase. Edgars Mutter… tot. Sein Vater… auch tot. Seine kleinen Schwestern, Melanie und Lisa… beide tot.

Du miese, kleine R…!

Was zur Hölle war passiert? Waren es Zombies? So wie in Tobis Comics? Untote, die aus ihren Gräbern gestiegen sind? Edgar muss handeln. Nein, er muss… funktionieren. Sein erster Gedanke, die Polizei zu rufen, verpufft ebenso, wie die fragile Seifenblase, die sein bisheriges Leben mit einem leisen *plöpp* in Luft auflöste. Ein Freizeichen. Es klingelt… und klingelt… und klingelt. Nichts. Auch der Versuch, die Nachbarn zu informieren bleibt erfolglos. Niemand öffnet. Trauer. Angst. Panik. Doch Zombies?

Edgar entscheidet sich für die logischste Möglichkeit. Die für IHN logischste Möglichkeit. Er muss das Haus abfackeln. Sollte es sich wirklich um eine Zombie-Apokalypse handeln, MUSS er alles niederbrennen. Weiß doch jeder. Kann man überall nachlesen. Mehrere Benzinkanister werden entleert. Kurz innehalten. Kurz innehalten und Abschied nehmen von der Familie. Trauer.

Entzündet wird das Feuer natürlich von draußen. Wie auch sonst? Edgar ist elf, aber nicht blöd. Daran ändert auch sein dämlicher Vorname nichts. Früher schoss er mit Pfeil und Bogen immer auf Cola-Dosen. Darin war er gut. Er umwickelt eine Pfeilspitze mit Stoff, tränkt sie in Benzin und zündet sie an. Zombie-Köpfe sind größer als Cola-Dosen… also gute Chancen für ihn, wenn das Feuer die untote Brut aus dem Haus scheucht. Edgar spannt den Bogen… zielt… und Treffer! Der brennende Pfeil saust durchs offene Fenster im Obergeschoß. Der zuvor großzügig verteilte Brandbeschleuniger verfehlt seine Wirkung nicht. Der Junge macht sich bereit, während die Flammen seine einstige Heimat immer dichter umschließen. Doch kein klapperndes Gerippe kommt aus dem lodernden Inferno geschlurft. Keine laufenden Toten. Keine Zombies. Die Bedrohung ist weitaus irdischer, dafür umso bissiger… RATTEN!!! Zig… ach was, hunderte von den Viechern! Ihr Kreischen ist ohrenbetäubend und eine unaufhörliche Welle von Ratten strömt ungebremst auf den schockierten Edgar zu. Geistesgegenwärtig schnappt er sich einen der Benzinkanister und schleudert ihn auf die wilde Brut, die sich in sekundenbruchteil in ein gigantisches, grell kreischendes Feuermeer verwandelt.

Da steht Edgar nun… allein. Ein elfjähriger, gesegnet mit einem verdammten Scheißnamen, seiner ganzen Familie und seiner sicheren Heimat beraubt. Nur mit den Klamotten, die er am Leib trägt und bewaffnet mit Pfeil und Bogen macht er sich auf in die Nacht. Auf, in eine ungewisse Zukunft. Traurig, ängstlich und… allein.

Ein Schlag in die Fresse…

…und dann in den Magen. Anschließend ein Tritt in die Nieren und dann nochmal von vorn. So ungefähr darf man sich Edgars Tour de Force durch die rattenverseuchte Landschaft vorstellen. Denn wer denkt, ich hätte im letzten Absatz zu viel über die Story von „Ratten“ verraten, täuscht sich gewaltig. Vor den brennenden Trümmern, die seine Familie, sowie seine Vergangenheit in Rauch aufgehen lassen, beginnt erst die eigentliche Odyssee. Eine Odyssee, die den armen Jungen nimmt, zerkaut, ihn ausspuckt und dann genüsslich auf ihm herumtrampelt. Die Sonnenseite des Lebens scheint unbekannt verzogen und das Schicksal spielt russisches Roulette mit vollgeladener Trommel. Kein Tiefschlag bleibt Edgar erspart und das Lesen wird zur Tortur… doch man kann nicht aufhören. Keine leichte Kost für den entspannten Leseabend auf der Couch. Hier schlägt die Realität knüppelhart zu. Gerade der Verzicht auf übernatürliche oder phantastische Elemente verleiht „Ratten“ eine brutale Ehrlichkeit, die noch lange nachwirkt.

Kennt Ihr das, wenn Ihr ein Buch oder einen Comic lest und bereits nach wenigen Seiten wisst, dass Ihr da etwas ganz Besonderes in Hände haltet? Wenn ja, könnt Ihr Euch vorstellen, wie es mir bei „Ratten“ ging. Bereits eine kleine Leseprobe und ein Blick auf das eindrucksvolle Cover-Motiv haben gereicht, um mein Interesse zu wecken. Da war so ein Gefühl, dass es sich um eine Geschichte handelt, die den richtigen Nerv treffen könnte. Und das tat sie auch. Selbst einige Stunden nach dem Lesen des Buches – es lag noch in Sicht- und Reichweite – erwischte ich mich dabei, wie ich immer wieder reinblätterte und einzelne Passagen erneut las. Als könnte ich den Verlauf dadurch verändern… in Einzelschicksale eingreifen… drohendes Unheil abwenden. Schwer zu beschreiben, aber so wie „Ratten“ hat mich lange kein Comic mehr eingenommen. Ein nachhaltiges Erlebnis.

German Angst

Verantwortlich für diese erschreckend reale Dystopie ist der deutsche Autor Michael Mikolajczak, dem die Idee zu „Ratten“ bei einer historischen Stadtführung kam, was auch die Kanalisation mit einschloss. Der im Stuttgarter Umland lebende Szenerist, der sich für die 2017 ebenfalls bei Kult Comics veröffentliche Vampir-Graphic Novel „Blutspur“ verantwortlich zeichnet, schreibt neben Comics auch Drehbücher und Romane. Diese umfangreiche Erfahrung kommt auch „Ratten“ zugute. Er schafft es bravourös  die Geschichte aus der Sicht des kleinen Edgar zu erzählen, ohne dabei zu vergessen, dass es sich um einen Elfjährigen handelt. Durch diese Tatsache ergibt sich für den Konsumenten ein noch intensiveres Leseerlebnis. Sympathie baut sich auf und der Beschützerinstinkt in der verseuchten, rauen Welt wird geweckt… doch wir können nicht eingreifen. Nur zusehen, mitfiebern und akzeptieren. Mikolajczak schildert den brutalen Weg zum Erwachsenwerden. Ein Junge, dessen größtes Problem vor kurzer Zeit noch sein bekackter Vorname war, trägt plötzlich eine große Last auf seinen schmalen Schultern. Er trägt Verantwortung. Verantwortung für sich und für die Leute, denen er begegnet. Er will kein Anführer sein. Er wird zum Anführer gemacht. Zum Anführer wider Willen. Sein Autor hat ihm diesen Weg vorgegeben… und das hat er verdammt gut gemacht.

Die Zeichnungen in „Ratten“, die einem schneller in die Augen springen, als die namensgebenden Nager, stammen von Sascha Dörp. Der gebürtige Kölner zeichnete bereits eine Ausgabe von „Mr. Kill“ für PlemPlem Productions und ist seit 2010 für die Online-Cartoon-Reihe „Schoolpeppers“ verantwortlich, die er zeichnet und textet. Beim TheNextArt Verlag erscheint zudem seit 2015 seine Reihe „Enklave“. In „Ratten“ zeigt Dörp eindrucksvoll, was er auf dem Kasten hat und liefert gut strukturierte und klassische Panels mit konturvollem Strich. Aufs Wesentliche reduziert und trotzdem detailliert steht der junge Edgar jederzeit im Fokus der Geschichte. Der großzügige und kräftige Einsatz von Schattenwürfen verleiht „Ratten“ seinen ganz speziellen und imposanten Look. Die größtenteils blasse Farbgebung ist angenehm dezent, nur um in manchen Szenen regelrecht zu explodieren. Dann überstrahlen ein feuriges Gelb oder ein atmosphärisch nächtliches Blau die pechschwarzen Schattierungen und es ergibt sich ein stimmungsvolles Ganzes. Ein Wechselbad, das perfekt zur Geschichte passt.

Neben der Standard-Hardcover-Ausgabe ist bei Kult Comics noch eine auf 30 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe erschienen. Diese Edition wartet – neben einem Variant-Cover -  noch mit einem signierten Exlibris auf.

Fazit:

Auf nur 64 Seiten hat „Ratten“ es geschafft, mich mehr zu begeistern, als so mancher 5 Kilo-Wälzer. Die Harmonie zwischen Wort und Bild (trotz der trostlosen und harten Thematik wage ich hier mal von „Harmonie“ zu sprechen) haben es mühelos geschafft, mich ab der ersten… spätestens der zweiten Seite vollkommen einzunehmen. Danke an Michael Mikolajczak, Sascha Dörp und Kult Comics, für dieses kurze, aber nachhaltige Erlebnis. So geht deutsche Comic-Kunst, die sich anhand mehrerer guter Beispiele schon lange nicht mehr hinter ihren französischen, belgischen oder amerikanischen Pendants zu verstecken braucht.

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